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Archiv-Artikel

Die verlorene Schönheit

Bei dieser WM ist das brasilianische Spiel eher von Effizienz als von Ästhetik geprägt. Heute treffen sie auf den Gegner, der ihnen ihre letzte WM-Niederlage zufügte: die ebenfalls alternden Franzosen

AUS BERGISCH GLADBACH DANIEL THEWELEIT

Ronaldo hat seinen Spaß. Während die Kollegen beim letzten Training der brasilianischen Nationalmannschaft vor dem Viertelfinalspiel gegen Frankreich den Anweisungen eines Assistenztrainers lauschen, bolzt er ein paar Bälle aufs Tor. Die Schultern wippen entspannt, sein Gang stellt eine geradezu provozierende Lockerheit zur Schau. Bei fast 30 Grad Lufttemperatur ist er der einzige brasilianische Spieler, der noch nicht einmal seine Trainingsjacke ausgezogen hat, ein britischer Journalist mutmaßt, dass selbst das „zu viel Bewegung“ sei für Ronaldo.

Entrückt wirkt der wohl weltgrößte Stürmer der vergangenen zehn Jahre, da ist es nur konsequent, dass er die Trainingsinhalte seiner Mannschaft ignoriert. Im Spiel beteiligt er sich ohnehin nicht an der Gemeinschaftsarbeit, sein Job besteht darin, zwischen den Innenverteidigern des Gegners herumzuspazieren und den Ball irgendwie ins Tor zu schießen, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Bisher hat das wunderbar geklappt, und deshalb lacht Ronaldo viel, während er einen Ersatztorhüter mit unhaltbaren Bällen nervt.

Den großen Star zu kritisieren würde sich niemand trauen. Denn seine Effektivität ist weiterhin umwerfend. Doch Ronaldos behäbige Spielweise kennzeichnet mittlerweile die Ästhetik der gesamten Mannschaft. Die Fachwelt ist daher ins Rätseln geraten, ob der Weltmeister tatsächlich das Tempo erhöhen kann, wenn ein Gegner kommt, der nicht vor Ehrfurcht erstarrt, der den Mut besitzt, diese fragil wirkende gelbblaue Defensive mit Konsequenz zu attackieren.

Niemand weiß, was passieren wird, wenn die Brasilianer am heutigen Samstag auf Frankreich treffen, auf jenen Gegner, der ihnen ihre letzte WM-Niederlage zufügte. Im Finale von 1998 war das, Frankreich gewann 3:0, es war die einzige WM-Niederlage Brasiliens seit 1990, die einzige Schmach, die die heutige Spielergeneration um Cafu und Roberto Carlos in ihrer langen Karriere erleben musste. „Ich weigere mich, mich an dieses Jahr zu erinnern“, sagt Roberto Carlos.

Vielleicht reicht gegen die ebenfalls alternden Franzosen erneut der eine oder andere geniale Moment, dieses Brasilien ist unberechenbar und gefährlich. Nur eines ist so gut wie ausgeschlossen: dass die Mannschaft einen temporeichen, modernen Fußball spielt, das wäre nach den bisherigen von einer fast schon aufreizenden Behäbigkeit geprägten Auftritten eine echte Sensation. „In jedem Fall müssen wir viel, viel besser spielen, wenn wir das Finale erreichen wollen“, sagt Gilberto Silva. Seine Worte waren die offenste Selbstkritik, die in den vergangenen Tagen aus dem Kreis der Nationalspieler zu vernehmen war.

Es gibt viele Indizien, die dafür sprechen, dass sie ziemlich verunsichert sind, was die Einschätzung des eigenen Potenzials angeht. Nach dem 4:1 gegen Japan umgab Trainer Carlos Alberto Parreira eine euphorische Erleichterung, endlich habe seine Mannschaft den „brasilianischen Stil“ gefunden. Wenige Tage später, nach der von Effizienz und glücklichen Schiedsrichterentscheidungen geprägten Partie gegen Ghana, wurde er ganz fuchsig, als er auf die Schönheit des Spiels angesprochen wurde. „In den Geschichtsbüchern wird nicht vom schönen Spiel erzählt, sondern von Champions.“

Das Brasilien der WM 2006 ist das Brasilien des Ronaldo und nicht das Brasilien des Ronaldinho und das ist die Tragik dieses Teams, und daher steht die Effizienz und nicht die Schönheit im Vordergrund. „Ich spiele anders als in Barcelona, muss mich um mehr defensive Dinge kümmern“, sagt Ronaldinho mal wieder, als er gefragt wird, warum er nicht den Zauber von Barcelona verbreiten konnte bisher. Seit über einem Jahr ist ihm kein Tor mehr gelungen im Trikot der Seleção. Das Problem ist weniger seine Form als seine Mannschaft, auch wenn er das so niemals sagen würde. In Barcelona ist er der Mann mit allen Freiheiten nach vorn, in der Nationalmannschaft besitzt Ronaldo dieses Privileg. Der Madrilene verhält sich bei dieser WM wie ein Denkmal, das so gigantisch ist, dass niemand es stürzen kann. Irgendwie ist er das ja auch, mit seinem Torrekord für die Ewigkeit. Wenn Brasilien allerdings ohne eigenes Tempo im Spiel, nur mit Effizienz, der Ehrfurcht der Gegner und dem eigenen Größenwahn Weltmeister werden sollte, dann muss man sich langsam mit der Frage befassen, wie jemals wieder jemand anders diesen größten Titel des Weltfußballs gewinnen soll.