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Archiv-Artikel

Im Baum mit dem Opossum

SCHRIFTEN ZU ZEITSCHRIFTEN Magische Momente haben Jäger, Fußballer oder Soldaten. Warum alle Kulturtechniker sind, ist das Thema der „Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung“

VON PHILIPP GOLL

Nach ihrer Pilotnummer zum Thema „Angst“ legt die erste Ausgabe der neuen Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK) den Schwerpunkt auf „Kulturtechnik“. Gegenstand ist die Entwicklung der Medienwissenschaft, die sich seit ihrem Entstehen in den 1980er Jahren zunehmend von ihren ursprünglichen Objekten – Radio, Fotografie, Fernsehen, Film – abwendete und sich den traditionellen Gegenständen der Geisteswissenschaft zuwendete, etwa der literarischen Praxis oder der ästhetischen Erfahrung. Der Medienwissenschaftler Friedrich Kittler nannte einst diese Expansion der Medienwissenschaft „die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften“.

Im Editorial beschreiben die Herausgeber Lorenz Engell und Bernhard Siegert, was Medienwissenschaft vor dem kulturtechnischen Horizont bedeutet: „Schreiben, Lesen und Rechnen sind ‚techniques du corps‘, Körper-Objekt-Techniken, keine bloßen Geistestechniken.“ Diese Techniken sind kulturelle Praktiken, die über ein Medium vermittelt sind. Die Frage, was zuerst da war, Kulturtechnik oder Medium, wird von Engell und Siegert durch die Frage nach den gegenseitigen Beeinflussungen, den Operationsketten und Delegationen zwischen Kultur und Technik ersetzt: „Heute ist der Begriff der Kulturtechnik deswegen so produktiv, weil er den problematischen Dualismus von Medien und Kultur unterläuft, indem er die Begriffe Medien, Kultur und Technik gemeinsam zur Disposition stellt.“

In Harun Mayes Beitrag „Was ist Kulturtechnik?“ erfährt man, dass die konzeptuelle Vorlage für die Kulturtechnikforschung von dem französischen Soziologen und Ethnologen Marcel Mauss stammt, genauer von dessen Konzept der Körpertechniken. Mauss habe Mitte der 1930er Jahre zum ersten Mal von „Techniken des Körpers“ gesprochen, und zwar in seiner Analyse der Arten des Gehens und des militärischen Marschierens. Die medienwissenschaftliche Kulturtechnikforschung, so Maye, sei aber vor allem ein Gegenentwurf zur eurozentristischen Medien- und Kulturgeschichtsschreibung, da sie das Verhältnis von Dingen und Menschen, Technik und Kultur und ihre gegenseitigen Beeinflussungen genau unter die Lupe nehme.

Ein Beispiel gibt Erhard Schüttpelz in seinem Beitrag „Körpertechniken“. Der Vorgehensweise von Mauss und seiner Untersuchung der Körpertechniken kann Schüttpelz einiges abgewinnen, um Phänomene der eigenen Kultur zu erklären. Mauss berichte etwa über einen australischen Jäger, der mit einem magischen Stein im Mund und eine Formel singend ein Opossum in einem Baum fängt – für einen Menschen eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, da er dem Tier körperlich unterlegen ist. Mauss interessiert sich bei diesem Beispiel für das „psychologische Momentum“, die Suggestion, die es dem Jäger ermöglicht, zu größeren Kräften zu gelangen. Für Schüttpelz ist es von dieser Beobachtung aus nur ein kleiner Schritt in unsere „aufgeklärte“ Kultur, in der Rituale und magische Praktiken scheinbar keine Rolle spielen: „Die Suggestionstechniken und magischen Hilfsmittel von Leistungssportlern sind nicht weniger ausgefeilt als die der zitierten australischen Jäger.“

Das ließ sich auch bei der Fußball-WM beobachten. Mutgesänge, Glücksbringer, Stoßgebete – auch Mesut Özil, David Villa oder Arjen Robben benötigen neben trainierten Körpern die Medien der Suggestion, um erfolgreich zu kicken. Eine Medienwissenschaft nach der „medienanthropologischen Kehre“ (Schüttpelz) müsse die magischen und rituellen Kultur- und Körpertechniken der westlichen Welt aufdecken.

Eine solche „symmetrische Kulturbetrachtung“ wäre in der Tat dringend nötig. Denn wenn die kulturelle Differenz zu „den Afrikanern“ mit der heischenden Kritik an einer fremdartigen Tröte namens Vuvuzela behauptet wird, stellt sich schon die Frage, wo mehr Magie drinsteckt: im Gebrauch eines Plastikinstruments oder in den Gesängen, die von europäischen Fankörpern produziert werden.

■ „Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung“, Heft 1/2010, 228 Seiten, 28 Euro