Ein Lakritz in Pfeifenform

JAZZFESTIVAL KOPENHAGEN Überall in der Stadt wird man mit Jazz konfrontiert. Stars wie Caetano Veloso erneuern Traditionen

Beim Jazzfestival Kopenhagen ist der Staub vom Trenchcoat der Jazzgeschichte weggepustet

VON JULIAN WEBER

Leidenfrost-Effekt (nach Johann Gottlob Leidenfrost) heißt die Erscheinung, die dazu führt, dass Wassertropfen auf einer heißen Herdplatte entgegen den Gesetzen der Schwerkraft tanzen. Ihre musikalische Entsprechung hat die physikalische Merkwürdigkeit beim 32. Jazzfestival Kopenhagen gefunden, und zwar auf dem ersten von zwei ausverkauften Gigs des US-amerikanischen Saxofonisten Joshua Redman, die er mit seinem Double Trio (neben Redman zwei Bassisten und zwei Drummer) im Kopenhagen JazzHouse spielte.

Nicht Redman, der Kritikerliebling, sondern einer der beiden Drummer, Gregory Hutchinson, ist die heiße Herdplatte, die abstrakte Wahrheit, die den Blues der anderen Musiker variiert und zerstreut. Und dafür völlig zu Recht mit Sonderapplaus bedacht wird. Wie er die Changes und Melodieskalen seiner Kollegen in gegenläufige Wirbelcluster auflöst und dabei aussieht, als verteile er Kusshändchen, ist im besten Sinne „21st Century Jazz“. So nennt das Kopenhagen JazzHouse sein dem Festival untergeordnetes Programm.

Der Bandleader dankt es Hutchinson mit der ihm gewidmeten Komposition „Hutch Hikers Guide“. Tags zuvor erklärte der afroamerikanische Drummer vor dem Eingang des JazzHouse einer Studiengruppe blinder dänischer Jazzfans sehr plastisch, wie er den Gleichklang untergräbt, auch wenn der Puls noch so prasselt: „Never stop searching for that groove.“ Der vermaledeite Groove. Die Kunst des Jazzfestivals Kopenhagen ist es, den Staub vom Trenchcoat der Jazzgeschichte weggepustet zu haben. So erst wird der vermaledeite Groove lebendig, klingt wieder zum Greifen nah. Man begegnet den Musikern allerorten, sie verweilen nach ihren Konzerten in der Stadt, geben Workshops, checken Kollegen ab, steigen spontan in deren Gigs mit ein, so wie es der Saxofonist Mark Turner bei Joshua Redman getan hat, um einer Komposition von Wayne Shorter („Barracudas“) mit meditativ deepen Tenor-Tönen eine lange Klangfarbe zu geben, wo Redman eher sportlich kurz angebunden improvisiert.

Auch jenseits der abendlichen Highlights beweist die dänische Hauptstadt mit ihrem Jazzfestival, dass man einer breiten Öffentlichkeit die Bedeutung von Jazz näherbringen kann. Abseits vom Mainstream werden hier Menschenmassen mobilisiert, um beim Public Viewing gemeinsam den großen Trommeln und Vuvuzelas aus Blech beim Vibrieren zuzuschauen.

Während einer heißen Juliwoche konfrontiert man die Kopenhagener mit mehr als 1.000 Jazzkonzerten. Nicht nur große Namen sind dafür aufgeboten. An zig Spielorten, vom Königlichen Theater bis zum Lichthof der Zentralbibliothek, in Parks, an zentralen Plätzen, in den Straßen und vor den Cafés, sogar in Treppenhäusern und Absätzen von Treppenhäusern spielen fast rund um die Uhr Combos jeder Couleur. Und siehe da, das Konzept geht auf. Die Menschen sind bereit ihre Alltagsverrichtungen zu unterbrechen. Zu Hunderten radeln sie den Konzerten hinterher, so dass es zwischendurch zu bedenklichen Fahrradstaus kommt und Fahrradabstellplätze Mangelware werden. Sie lassen sich mitreißen, wie es hierzulande selten bis überhaupt nicht geschieht, wenn das Stichwort Schähss nasal ausgesprochen wird.

Andere Länder, andere Sitten: Die Profis unter den Zuschauern lassen sich mitten in der Stadt auf ihre Camping-Sessel sinken, wieder andere machen es sich auf Iso-Matten bequem. Zwischendurch wandern Finger in Essenstüten mit japanischen Edamame-Bohnen und Lakritz in Pfeifen-Form („Skipper’s Pipe“), dazu trinkt man das dänische Nationalgetränk „Øl“. Vielleicht liegt es ja auch an der singenden Sprache, dass die Dänen eine besondere Beziehung zur Formensprache des Jazz entwickelt haben. Das Jazzfestival Kopenhagen ist jedenfalls ein Ereignis von gesellschaftlichem Rang: Nahtlos braune junge Frauen quittieren beim Konzert des hippen, nach Friedrichshainer Karottenjeansträgern aussehenden Sören Kjæergaard Trios immer an den richtigen Stellen im Solo die musikalische Leistung mit „Yeah!“.

Gesellschaftliches Ereignis

Unvorstellbar in Deutschland mag auch sein, dass 1.000 Zuschauer einem Freejazz-Quartett wie der Carsten-Dahl-Experience beim Energy-Playing unter freiem Himmel lauschen. Selbst in kuriosen Momenten, wie dem Showcase des Avantgarde-Labels Ilk Records in einer leerstehenden Boutique, als den Zuschauern vom Pianisten Jesper Løvedal Percussion-Instrumente gereicht werden, wirken die Konzerte nie wie Beschäftigungstherapie. Jazz hat in Dänemark augenscheinlich weder Vermittlungs- noch Nachwuchs- noch Imageprobleme.

Das liegt an der langen, nur teilweise bekannten Tradition Kopenhagens als Jazzmetropopole. Schon in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts war die Stadt neben Paris zentrale Anlaufstelle für US-Jazzmusiker. Der Pianist Fats Waller kam 1938, spielte und blieb für einige Zeit. Ende der Fünfziger wurde Kopenhagen zum dauerhaften Exil für Dexter Gordon und Ben Webster. Abseits der rassistischen Diskriminierung in ihrer Heimat begründeten die afroamerikanischen Musiker ihre Karrieren in Dänemark ein zweites Mal. Ihre dänischen Sidemen, wie der Bassist Niels-Henning Ørsted-Petersen, waren inzwischen zu ebenbürtigen Musikern herangewachsen. Das Kopenhagener „Jazzhuus Montmartre“ galt einst als bester Auftrittsort auf dem europäischen Festland. Aufnahmestudios begannen ihre Arbeit und Plattenfirmen, das öffentlich-rechtliche dänische Radio wurde zum lebenswichtigen Geldgeber für die Gestrandeten. Das Gesellschaftsklima, der liberale Umgang mit Alkohol und Drogen, die Gesichter der Helden von einst sprechen Bände. Das alles ist längst vorbei. Ein Mythos, bestenfalls.

Ausschweifungen können sich zeitgenössische Jazzer höchstens gedanklich leisten. Sie wirken fokussiert, manchmal übermotiviert geschichtsbewusst und perfektionistisch. Neben dem athletischen Joshua Redman ist es der indisch-amerikanische Pianist Vijay Iyer, dessen Improvisationen trotz asketischer Anmutung seelenvoll und spannungsgeladen wirken. Sein Trio – wieder setzt ein afroamerikanischer Drummer, der erst 23-jährige Marcus Gilmore Glanzlichter – hangelt sich beim Konzert mühelos von Eigenkompositionen zu abschweifenden Ausflügen in die Historie. „Der nächste Song heißt ‚Alaska‘, hat aber gar nichts mit Sarah Palin zu tun“, parliert Iyer und lässt hinterher eine freie Interpretation von Julius Hemphills „Dogon A.D.“ in eine atemberaubende Instrumentalversion von Michael Jacksons „Human Nature“ einfließen. Doch, das hat Klasse und das hat auch Stil, ganz anders als es der wie ein Klappmesser vor seinem Piano sitzende Vijay Iyer vermuten lässt.

Versauter Hüftschwung

Dass Pop und Jazz gefährliche Liaisonen eingehen, klingt theoretisch reizvoll, mag aber in der Praxis nur in Ausnahmen gelingen. Eine solche ist der Auftritt von Caetano Veloso im Kopenhagener Opernhaus in der Reihe „Giant Jazz“. Man merkt an diesem glorreichen Abend erst allmählich, wie viel die chorknabenhafte Stimme des inzwischen 67-jährigen brasilianischen Popstars von Cooljazzern wie Chet Baker gelernt hat. Aber das ist nur der eine Teil der Geschichte. Der andere, wichtigere ist der versaute Hüftschwung, den Veloso vorne an der Rampe vollführt, immer dann, wenn seine tighte Backingband die rhythmische Vielfalt Brasiliens mit einer äußerst ökonomischen Form von Rock fusioniert.

„Transsambas“ nennt Veloso diese Songs. Sein Set ist die wohldosierte Mischung aus Klassikern wie dem 1971 im Londoner Exil entstandenem an die Schwester gerichtetem „Maria Bethânia“ und den Songs seines aktuellen Albums „Zii e Zie“. Die scheinbar vollzählig erschienene brasilianische Gemeinde im ausverkauften Saal singt von Beginn an mit, was auf die übrigen Zuschauer ansteckend wirkt. Kopenhagen rückt in diesen Momenten näher an Velosos Heimat Bahia, die Grenzen zwischen Jazz und Pop sind offen.