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Archiv-Artikel

Mythen für die Zeit als Opa

Zettel-Nummer und Kahn-Umarmung: Wie Deutschlands Torhüter Jens Lehmann Geschichte schreibt

BERLIN taz Endlich ist er da, der Stoff, aus dem die Mythen sind. Üppig angefüllt mit Momenten für die Historie war das Elfmeterschießen der Deutschen gegen Argentinien, nun dürfen die Legenden ranken. Man kann sich wunderbar vorstellen, wie Jens Lehmann im WM-Jahr 2034 grauhaarig in einem Sessel sitzt und vor einer Fernsehkamera berichtet, wie Jogi Löw ihm den Zettel zusteckte, auf dem zu lesen war, was nun zu tun sei zur Rettung der großen Weltmeistermission.

Pathos legt sich in die Stimme, im Stutzen habe er das geheime Dokument aufbewahrt, wird der Greis erzählen, vielleicht wird er zu einem Schrank gehen, das vergilbte Papier hervorholen und vorlesen, was Torwarttrainer Andreas Köpke ihm auf diesem altertümlichen Kommunikationsweg zu sagen hatte. Dann wird der Fernsehreporter die Frage nach Oliver Kahn stellen. Es werden antiquiert wirkende Bilder gezeigt werden, von der die Nummer zwei, die der Nummer eins dem Arm um die Schultern legt, alle persönliche Gekränktheit und Eitelkeit verloren in der Größe des Augenblicks. Zwei Helden vom 30. Juni 2006.

Vielleicht werden die jüngeren Zuschauer Kahn gar nicht kennen, und Lehmann wird verklärt erzählen, dass es da ein paar Konflikte gegeben habe, und dass dieser Moment sehr groß gewesen sei, weil er ihm noch mehr Kraft gegeben habe. Und dann wird zu sehen sein, wie Lehmann bei jedem Elfmeter wusste, wo er hinzufliegen hatte, und wie er zwei der vier Schüsse abwehrte. „Ja, die Worte von Oliver Kahn haben mir sehr viel bedeutet, weil sie der endgültige Wendepunkt für einen der wenigen sensiblen Punkte des sozialen Gefüges dieser Mannschaft bedeuteten“, könnte Lehmann dann sagen, und mit altersweisem Duktus wird er diesen Viertelfinalsieg dem großen Rivalen von damals widmen. So entsteht Fußballgeschichte.

Jetzt jedoch, in den Tagen nach den großen Taten, will Lehmann sich lieber nicht äußern. „Ich denke, als deutscher Torwart sollte man ein Elfmeterschießen gewinnen. Außerdem haben die vier Schützen super geschossen“, sagte der Held lapidar, und als die Jungspunde zuvor wild im Olympiastadion herumsprangen und mit dem Publikum feierten, war der Routinier längst in den Katakomben verschwunden. Nur kurz hatte er nach der letzten Parade mit dem rechten Zeigefinger gewackelt, einmal die Faust geballt und sich dann fast widerwillig herzen lassen. Eine Umarmung für Kahn hatte er natürlich auch im Repertoire, dann war er untergetaucht. „Jens war weg, aber glücklicherweise haben wir ihn unter der Dusche wiedergefunden“, erzählte Bastian Schweinsteiger später, doch selbst dort war Lehmann noch längst nicht heruntergekommen von seinem merkwürdigen Torwartrausch.

Seine Augen hatten immer noch diese Schärfe der Extremsituation, er blickte voller innerer Willenskraft, als er an den hungrigen Reportern vorbeischritt, ein paar Brocken warf er ihnen zum Fraß vor, dann entschwand er im Mannschaftsbus. „Unsere Jungs haben ein paar fantastische Elfmeter geschossen“, flüsterte er noch einmal, „mehr will ich jetzt nicht sagen, weil wir eine weitere große Herausforderung vor uns haben“. Willensstärker, ja titanenhafter hätte auch ein Oliver Kahn nicht auftreten können.

Die außergewöhnlichen Elfmeterfähigkeiten Lehmanns waren ja in der wilden Schlacht der Argumente um den Platz im deutschen Tor seltsamerweise überhaupt nicht von Gewicht gewesen. Kahn galt nie als Spezialist für solche Duelle, und Lehmann hat schon mit dem FC Arsenal im Halbfinale der Champions League gegen Villareal einen entscheidenden Strafstoß gehalten. Ausgeführt übrigens vom Argentinier Roman Riquelme. Auch Hendrik Larssons Schuss vom Punkt im Achtelfinale gegen Schweden hat er richtig eingeschätzt, Lehmann war stehen geblieben, der Ball flog über die Mitte des Tores. „Er hat bewiesen, dass er einen Sinn dafür hat, wo der Ball hingehen könnte“, sagte Klinsmann und vergaß nicht hinzuzufügen: „Gewinner ist genauso Oliver Kahn. Was der Oli in diese Mannschaft mit einbringt, das ist unglaublich.“ Noch unglaublicher ist jedoch, wie sich die Details des Turniers zu einem wunderbar gelungenen Gemälde zusammenfügen, den überaus komplizierten Bildausschnitt mit den Torhütern hat Klinsmann mit Meisterhand vollendet. DANIEL THEWELEIT