: berliner szenen Damit wir leben können
Juppi singt
Angenehm war das alles nicht. Manchmal versuchte B., für Deutschland zu sein, aber es ging nicht. Seine Kinder hatten ihn überredet, eine Deutschlandfahne zu kaufen, aber sein eigenes Herz ließ sich nicht umstimmen.
Er schämte sich, wenn er die Fahne an seinem Balkon wehen sah, und kam sich superalt vor, als er durch die Straßen von Kreuzberg ging. Wo andere fröhliche Menschen sahen, fielen ihm nur hässliche Betrunkene mit feisten Gesichtern auf; wo andere sich über Migranten in roten Deutschlandtrikots freuten, vermutete er niedrige Motive und Graue Wölfe. An einer Hauswand standen verblasste Worte von früher: „Deutschland verrecke!“ Er fühlte sich ertappt, peinlich berührt, wie neulich, als in seiner Kneipe „Kebap-Träume“, dies alte Stück von DAF, gespielt wurde, dessen Refrain sie immer so gerne mitgesungen hatten: „Deutschland, Deutschland – alles ist vorbei“.
Nun war für Brasilien, das er seit 36 Jahren unterstützt hatte, alles vorbei. Und im Briefkasten hatte die CD seines alten Kumpels Juppi von der Ufa-Fabrik gelegen. Damals hatten sie Pfeifchen geraucht und über die Weltrevolution geschwätzt, nun hieß es „Deutschland ist o.k.“. Dirk Schlömer, der vor 30 Jahren bei Ton Steine Scherben mitgemacht hatte, hatte sich auch seiner staatsbürgerlichen Verantwortung gestellt. Die Melodie klang so wie der Scherben-Klassiker „Mensch Meier“. Statt „Hey, hey, hey – eher brennt die BVG“ hieß es aber: „Hey hey, hey – Deutschland ist okay“. Das Lied fing so an: „Wir sind hier, um zu gewinnen, das ist ja wohl sonnenklar (aber hallo!)/ Der Rasen ist grün, der Ball ist rund, wir sind die Deutschen – wunderbar.“ Es wurde immer schlimmer. Er fühlte sich, als hätte ihm Rooney in die Eier getreten. DETLEF KUHLBRODT