: Schnippel-Disco
SCHLAGLOCH VON MATHIAS GREFFRATH Die Bewegung für anderes Essen wird so brisant wie die gegen Atomkraft
■ ist freier Autor für Print und Hörfunk. Er veröffentlichte zuletzt das Hörspiel: „Küchenpersonal“ beim WDR3, das er auch dem Grundsatz entwickelte: “Jede Köchin muss lernen, den Staat zu regieren.“ (Lenin)
An diesem Freitagabend, dem ersten Tag der Grünen Woche, werden sich ein paar hundert Menschen hinterm Postbahnhof im Zirkus Cabuwazi in Berlin-Friedrichshain treffen. Fast jeder wird ein Messer und ein Hackbrett dabeihaben. Sie werden sich an lange Tische setzen und Karotten, Zwiebeln, Kartoffeln, Kohlköpfe, Rüben schnippeln, dazu wird laute Musik spielen, es wird gelacht, geredet, umarmt, getrunken, getanzt werden. Und am Ende wird eine gute Tonne Gemüse kleingeschnitten sein. Gemüse, das von Ökobauern gestiftet wurde, weil es knubbelig gewachsen ist und selbst in Ökoläden nicht verkaufbar.
Wilde Mischung der Motive
Schnippel-Disco heißt das Ganze, und am nächsten Tag wird aus diesem Gemüse eine große Suppe gekocht, um die zigtausend Demonstranten zu wärmen, die unter der Parole „Wir haben es satt“ eine andere Landwirtschaft fordern, sorgsamen Umgang mit Lebensmitteln, sanften Abschied vom Fleisch, das Ende von Massentierhaltung, eine globale Agrarordnung, die Hunger und Bauernsterben ein Ende bereitet. Es wird eine bunte, fordernde und fröhliche Kundgebung vorm Kanzleramt sein, mit Plakaten und Traktoren. So wie im letzten, im vorletzten und vorvorletzten Jahr. Ein Ritual wird befestigt.
An der Ernährungsfrage wird sich in den nächsten Jahren eine Bewegung entwickeln, die so hartnäckig und radikal werden wird wie die gegen die AKWs, die vor vierzig Jahren in Wyhl begann. So wie in deren Anfängen kommen in dieser Bewegung sehr unterschiedliche Motive zusammen. Das Spektrum reicht von den Verfassern überdrehter Gourmetprosa („leichte Rustikalität mit wunderbaren Durchblendungsmöglichkeiten auf eine Bio-Anmutung, die weder aromatisch noch texturell zu dominant ist“) über Köchinnen in Kitas, die den Kindern lieber das Kochen mit Einheimischem beibringen würden statt die Fertigspeisung von Dussmann aufzuwärmen, Sterneköche bis zu Tierschützern, Veganern, Esoterikern aller Art und Religiösen, die sich „als Gerechte des Viehs erbarmen“. Und weiter: Montessori-Eltern demonstrieren mit Kleinbauern, die es bleiben wollen, Gewerkschaftern, die sich um rumänische Werkvertrags-Sklaven kümmern, die in den Schlachthöfen für vier Euro die Stunde schuften und von Schlägerbanden am Streik gehindert werden, mit Ökologen, die sich über die Schweinegülle im deutschen Boden sorgen und den Schwund des Regenwaldes und der Familienbauern in Argentinien, wo das Glyphosat von Monsanto auf den Sojafeldern die Fische im Río Paraná tötet.
Politisches Gesamtkunstwerk
Das Gemisch aus existenzieller Erschütterung, paranoider oder aufgeklärter Furcht vor Vergiftung und Sorge um „die Zukunft der Menschheit“ – all das gab es auch in der Anti-Atom-Bewegung, und die Mischung machte sie brisanter und argumentativ stärker als alle Beschwichtigungsversuche. Dazu kamen die kleineren und größeren Katastrophen. Heute heißt der Fall-out Rinderwahn, Gammelfleisch, Erdbeeren mit Noroviren, Bienensterben. Die Ökologiebewegung geht in die zweite Runde. Sie dürfte leichter fallen, weil die Gegner diesmal hässlicher sind: Massentierhalter, Landgrabber, Spekulanten, Lebensmittelfälscher. Und schwerer, denn die Sorge um die Zukunft des Planeten schlägt noch stärker durch auf die Kritik und Veränderung der Lebensweise jedes Einzelnen.
In letzter Instanz geht es um die Systemfrage, den Kampf gegen die totale – und tödliche – Subsumtion des globalen und des individuellen Stoffwechsels unter das Diktat des Kapitals. Aber diese theoretische Erkenntnis ist kein strategischer und erst recht kein taktischer Hebel für den Übergang in eine neue Epoche. Eine Ernährungs- und Agrarwende wird – wenn überhaupt – nur als „politisches Gesamtkunstwerk“ gelingen. Letztlich braucht es eine neue Welthandelsordnung, eine neue europäische Agrarpolitik, eine neue Bodenordnung und die Besteuerung schädlichen Konsums, also Gesetze und Verbote. Aber der soziale Wandel, der sie erzwingen kann, wird durch millionenfache einzelne Aktionen und Reformen geschehen: Menschenketten um Schlachthöfe, grüne Kisten mit regionalem und saisonalem Gemüse, eine Renaissance des Sonntagsbratens, Filme, Artikel, gewerkschaftlicher Kampf, wissenschaftliche Aufklärung. Und, und, und. Ob das Ziel, sieben Milliarden gut zu ernähren mit guter Landwirtschaft, erreicht werden kann, steht nicht zuletzt in den chinesischen Sternen.
Renaissance der Grünen?
Vor drei Jahrzehnten kamen die Grünen in den Bundestag – als eine Bewegungspartei, als Dach über hunderterlei soziale und kulturelle Initiativen, aber mit einem Leitstern, der hing sehr hoch und hieß: sozialökologische Transformation der Weltgesellschaft. Mit diesem den Einzelnen wie die ganze Welt ins Visier nehmenden Einpunkteprogramm hatten sie viele Emotionen und gute Wissenschaft auf ihrer Seite, es wurde ein Erfolgsrezept.
Angesichts der anwachsenden Erkenntnisse über die Zerstörung der Ernährungsgrundlagen – subjektiv bedrängender, noch umfassender und ferner von Lösungsideen als die Energiefrage – haben die Grünen hier eine zweite Chance, wenn sie den Mut zu anstrengenden Wahrheiten und großen Plänen wiederfinden: weiter und intelligenter als Veggie-Day-Spielereien. Die neue Offenheit nach allen Seiten, die liberalbürgerlichen und staatskritischen Wendungen der Partei sprechen dagegen, dass sie diese Chance bald und groß ergreift.
Die Koalitionsparteien aber, die wenig mehr als die schwammige Absicht einer „nationalen Tierwohloffensive“ und – guten Morgen! – ein Bekenntnis zum „bäuerlichen Familienbetrieb“ im Programm haben, könnten von der anschwellenden Empörung demnächst böse überrascht werden. Beides aber, eine Renaissance der Grünen wie eine Überraschung der Wachstumsparteien – wird nur gelingen, wenn die Lust am guten Essen, am Umzingeln, an der Vernunft und am Protestieren die Massen ergreift. Wenn immer mehr Bürger es satthaben. Es geht ums Essen und ums Überleben. Auch in diesem Sinne ist die Weltgeschichte ein Weltgericht.