Niemals Krimi

Fast dokumentarisch: Xavier Beauvois’ Spielfilm „Le petit lieutenant“ („Eine fatale Entscheidung“) handelt vom Alltag Pariser Polizisten

Nichts stört, niemand redet uns ein, was wir davon halten sollen. Die Säge, der Hebel, der Ton sind schiere Präsenz und weiter nichts

von DIETRICH KUHLBRODT

Von einer selbst gemachten Vertriebskatastrophe ist hier die Rede. Der deutsche Filmtitel dieses sensationellen französischen Films ist eine fatale Entscheidung. – Die Verleihfirma aus Tübingen schiebt das mitreißende Werk auf die deutsch-öde Krimischiene, und der lieblose Starttermin im Sommer kommt einer Entsorgung gleich.

Seien wir daher fair und geben „Le petit lieutenant“, dem kleinen Leutnant, den Namen zurück, unter dem er seine Festivalerfolge feierte. Bei uns wird, wer in der Kripo anfängt, Inspektor. Was erwartet ihn? Wie sind die Kollegen drauf? Was passiert? Wir sind in Paris: Was wird aus der Familie des Jungverheirateten fern in der Provinz?

Das gibt keinen Krimi, aber eine Reportage. Wir sind nah dran an einem Dokumentarfilm, und doch haben wir es mit Schauspielern zu tun, guten. Liegt es daran, dass man glaubt, was man sieht? Oder haben wir die Gewissheit, dass die Szenen nicht etwa dazu da sind, Bedeutung zu transportieren für den Drehbuchplot? Also echt: Es ist mitnichten ein Drehbucheinfall, wenn der junge hübsche Leutnant-Inspektor (Jalil Lespert) und die reife, lebenserfahrene Kommissarin (Nathalie Baye) nachts nebeneinander an der Seine stehen, und wir sehen, wie die, die Mutter hätte sein können, ganz selbstverständlich kifft. Und der Neue im Team? „Ich rauche nicht“, sagt er noch korrekt, bevor er inhaliert. Im Vordergrund geht ein junger Typ vorbei. Mit Hund. Ein paar Augenblicke kommt er zurück: „Darf ich auch mal ziehen?“ Er darf. Im Weggehen warnt er: „Passt auf, hier sind überall Bullen!“

Klar, dass die Szene nicht kommentiert wird. Sie wird auch keine Rolle spielen. Sie passiert, und das war’s. Regisseur Xavier Beauvois berichtet, was er selbst erlebt hat, pseudo-undercover bei der Kriminalpolizei in Paris, „wobei ich mich manchmal selber als Kommissar ausgab; so bekam ich Zutritt zu den Schauplätzen der Verbrechen und zu den Untersuchungen wie der Autopsie“. Infolgedessen hören wir es sehr deutlich, wie die Elektrosäge den Schädelknochen absägt und wie die Knochen auseinander gehebelt werden. Nichts stört, niemand redet uns ein, was wir davon halten sollen. Die Säge, der Hebel, der Ton sind schiere Präsenz und weiter nichts.

Ein deutscher Staatsanwalt wird von Amtsanmaßung reden. Wer ins Kino geht, wird sich freuen, dass einer zuzusehen und zuzuhören gelernt hat. Xavier Beauvois, 39, assistierte früher André Téchiné. 24 war er, als er für Philippe Garrel ein Drehbuch schrieb („Le vent de la nuit“). Für seinen Film „Vergiss nicht, daß du sterben mußt“ bekam er 1995 in Cannes den Jean-Vigo-Preis. Okay, das ist Namedropping für Fortgeschrittene. Im Übrigen sollen die Referenzen meine Behauptung beglaubigen, dass „Der kleine Leutnant“ vom Besten ist, was die französische Filmkultur zu bieten hat. Auch ist Jungleutnant Jalil Lespert, 28, ein derzeit mit Preisen überhäufter Shootingstar in Frankreich, während Nathalie Baye schon vor mehr als dreißig Jahren als Truffaut- und dann Godard-Star begann. Ja, man sieht es ihr an. Ihr Gesicht erzählt Geschichten und verbirgt Geheimnisse. Sie braucht keine Drehbucheinfälle, um uns etwas zu sagen. Wir nehmen ihr ab, was sie macht. Zum Beispiel, dass sie vor zwei Jahren noch schwer alkoholkrank war und jetzt mit der Arbeit erst wieder anfängt. Eventuell könnten diese Szenen, die uns immer wieder zu den Anonymen Alkoholikern führen, aber auch von Beauvois selbst erlebt sein; er deutet so etwas an ( „Situationen, die ich selbst erlebt habe“).

Um es bis zum Überdruss zu sagen: Wir kommen mit den Therapiesitzungen nicht in den Problemfilm. Sie passieren. Genauso wie das Inspektorengespräch an der Bar. „Darf jeder seine Rechte in Anspruch nehmen? Doch nicht der Serienmörder!“ – „Du warst bisher rechts, aber jetzt bist du rechtsextrem.“ – „Wie?!“ – „Fascho!“

Vergessen wir also die Szene? – Was mich betrifft, ich behalte sie. Für das, worum es in dem Film nebenbei auch noch geht, spielt sie keine Rolle. Aja, ehe ich das nun vergesse, womit ich professionellerweise hätte anfangen sollen: die Handlung des Films. Ja, also, es ist so, dass die Polen- oder die Russenmafia die aufkeimende Beziehung zwischen Kommissarin und dem Jungleutnant stört, wodurch diesem Schlimmes widerfährt und jene zwischen der Flasche und dem finalen Rettungsschuss wählen muss. – Wenn Sie das wissen müssen, um ins Sommerkino zu gehen und den Film gut finden zu können, nur zu.

„Le petit lieutenant“ („Eine fatale Entscheidung“). Regie: Xavier Beauvois. Mit Nathalie Baye, Jalil Lespert u. a. Frankreich 2005, 110 Min.