: Gefangen in seiner Haut
Wie konnte er, der notorische Einzelgänger, Skeptiker und Verweigerer der Tat, annehmen, dass ausgerechnet die Nazis die „blutende Wunde“ Deutschland heilen würden? Diese Frage stellen sich zum 50. Todestag von Gottfried Benn drei neue Biografien über den Arzt und Dichter
von ULRIKE BAUREITHEL
Gottfried Benn war wie die gesamte Benn-Sippe extrem hautempfindlich und litt zeitlebens unter Ekzemen. Seine Biografen veranlasste das immer wieder zu Spekulationen darüber, weshalb sich der Arzt ausgerechnet mit einer Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten niederließ. War es die „Schutzlosigkeit des Außenseiters“, der, „reizbar und hochneurotisch“, besonders empfänglich für die Gebrechen der Zeit war, wie es der Berliner Philosoph und Publizist Gunnar Decker in seiner Benn-Autobiografie vermutet? Oder ist da einer in seiner Haut gefangen, die, folgt man neueren Körpertheorien, in der Moderne undurchlässig und zur absoluten Grenze geworden ist? Die ungeliebte Hautarztpraxis immerhin sicherte Benn viele Jahre eine, wenn auch finanziell prekäre, bürgerliche Existenz. Diese Haut abzustreifen erlaubte er sich nur periodisch und für kurze Zeit mit intensiven Ausflügen in die Dichtung. Nichts fürchtete Benn nämlich mehr als das Leben auf der Parkbank, gleichgültig ob in Berlin oder irgendwo im Exil.
Mag Benns Juckreiz sich mit seinem Tod vor fünfzig Jahren naturgemäß erledigt haben, bleibt der Mann doch ein steter Reiz, an dem sich anlässlich des diesjährigen Doppeljubiläums – im Mai wäre Benn 120 Jahre alt geworden – drei Biografen reiben. Während Gunnar Decker den „ganzen Benn“ vorzustellen beansprucht, bescheiden sich der Rostocker Literaturwissenschaftler Helmut Lethen und der Herausgeber des Benn-Jahrbuchs, Joachim Dyck, auf Ausschnitte. Der eine entzieht sich der Erwartung biografischer Vollständigkeit durch so genannte „Kalenderstrecken mit Ruheplätzen“, der andere beschränkt sich von vornherein auf die Phase zwischen 1929 und 1949, die Zeit also, in der das „Benn-Ekzem“ besonders schmerzt.
Was sie umtreibt, ist bekannt: Wie gelang der Lyriker, der sich mit der bravourösen Verdichtung von Körpersäften und Ekelsubstanzen „fließend“ in den Strom der expressionistischen Avantgarde einschrieb, in den „Staatskristall“ der Nazis? Wie konnte er, der notorische Einzelgänger, Skeptiker und Verweigerer der Tat, annehmen, dass ausgerechnet die Nazis die „blutende Wunde“ Deutschland heilen würden? „Die Äcker bleichen/der Hirte rief/das ist das Zeichen: tränke dich tief“. Mit diesem Willkomm fährt Benn 1933 aus der Haut der Weimarer Republik.
Helmut Lethen reiht Benn ein in die Galerie der männlichen Überbietungsvirtuosen und Duellsubjekte, zu denen er Carl Schmitt und Ernst Jünger ebenso zählt wie Bertolt Brecht. Noch dem „neurasthenischen“ Zeitalter entstammend, stählen sich diese Spezialisten der Entscheidung kalten Blicks gegen den Modernisierungsschmerz in einer Zeit ohne Sicherheiten. Benn ist für Lethen insofern ein besonderer Fall, als bei ihm Panzerung und gleichzeitig der Wunsch nach Entgrenzung wirksam sind. Möglicherweise weil der Dichter immer auch auf den Arzt und Pathologen und damit den zu „sezierenden“ Körper bezogen bleibt; selbst expressionistisch zerlegt, erzählt der Leib noch „naturalistisch“ vom Schmerz.
Die erste Weihe im Versuchslabor der Kälte erlebt Benn als Kombattant und Augenzeuge einer Exekution. In Brüssel sekundiert er 1915 als Stabsarzt der standrechtlichen Erschießung einer mutmaßlichen Spionin, der britischen Krankenschwester Edith Cavell, die sofort nach ihrem Tode zum Mythos wird. 13 Jahre später legt Benn darüber Rechenschaft ab, unterkühlt, alle Distanzgesten der Neuen Sachlichkeit überbietend. Der Bericht ist Anlass und Auftakt der linken Kampagne gegen ihn, an der Egon Erwin Kisch und der ehemalige Expressionist Johannes R. Becher beteiligt sind. Ihr Unmut entzündet sich aber nicht etwa an der mangelnden persönlichen und ästhetischen Empathie, sondern daran, dass Benn heroischen Sinn verweigert und der geschichtsphilosophisch aufgeladenen Dekade damit eine brüske Absage erteilt.
Benn geht es um die Formgebung, die Ordnung des Provisoriums, abseits der ideologisch aufgerüsteten Fraktionen und ihrer Inhalte. Denn „die Sehnsucht nach dem Grenzenlosen verleitet nur zum Verschwenden ungeheurer Gebärden, zum gestaltlosen Zerfließen; man spürt deutlich die Grenzen und sehnt sich nach der gehämmerten, festen Gestalt“. In diesem Fall ist es nicht etwa Benn, sondern der Kunstphilosoph Ernst Utitz, einst theoretischer Claqueur des Expressionismus, der den Weg weist aus der „abgeräumten Wirklichkeit“ der Republik. Und von Arnold Gehlen stammt die Einsicht, dass gerade das Experimentelle, Abstrakte der modernen Kunst und Wissenschaft formalen Zwang abfordert und sie „gleichgültig macht gegen den Inhalt“. In diesem Sinne verfolgt auch Lethen Benns „Zwang zur Form“, der ihn in die Verbeugung vor den Nazis treibt.
Man mag Lethens Studie die Klebekanten verübeln – vieles stammt aus früheren Arbeiten und ist recht grob verspachtelt; auch die Collage-Technik ist von Benn abgekupfert. Man mag bedauern, dass die methodische Rasterfahndung mitunter den lyrischen Horizont der Benn’schen Dichtung verdunkelt. Doch provozierend sind nicht die handwerklichen Mängel, sondern weil Lethen den „genialen Dreckskerl“ Benn als mentalen Übergangstypus vorstellt und ihm vehement abspricht, was dieser immer sein wollte: originär, sein eigener, „kalter“ Gott im autonomen Reich der Kunst.
Denn Benn ist eine doppelte Herausforderung. Sein historischer Nihilismus muss alle jene „jucken“, die 1968 einen „Umschlag“ hatten herbeiführen wollen und für die heute Jüngeren kaum mehr sind als das beschämte Personal einer historischen Posse. Benn aber redete noch im berühmten Rundfunkgespräch mit dem Rückkehrer Peter de Mendelsohn vehement den gewaltsamen, undemokratischen Umschlägen der Geschichte das Wort, als sei die Diktatur für ihn weiter ein „notwendiges Durchgangsstadium“ und das Jahr 1933 nie entzaubert worden. Die Auseinandersetzung mit dem „Sound der Väter“ (Lethen) betrifft nicht nur Benn, sondern umfasst auch das Palaver mehrerer Generationen.
Weitab von solchen Abgründen macht Joachim Dyck ein anderes Angebot. Im Unterschied zu seinem Generationsgenossen Lethen will er in Benn nichts anderes sehen als den Zeitgenossen und Beobachter, gelegentlich auch den Mediator der vier Zeitalter, die Benn bewusst durchlebt hat. Mit dem aufbereiteten exorbitanten Quellenmaterial versucht Dyck zu verstehen, weshalb Benn an den archimedischen Punkten versagt hat: warum er den von ihm hoch verehrten Heinrich Mann als Vorsitzenden der Sektion Dichtkunst der Akademie der Künste gehen ließ und die Loyalitätserklärung der verbliebenen Dichter gegenüber den Nazis forcierte; warum Benn zumindest propagandistisch die nationalsozialistische Züchtungsideologie unterstützte; und warum er sich nicht schämte, seine „arische“ Herkunft zu belegen. Die Widerlichkeiten beim Versuch, sich als „Arier“ auszuweisen, werden unter den „rechten“ Dichterfürsten nur übertroffen von Arnolt Bronnen, der sogar seinen Vater verleugnete. Bronnen war mit Benn gut bekannt, und der Arzt lieferte das Veronal, mit dem sich Bronnens Freundin Erika Thiele umbrachte. Dieses in Bezug auf Benn wichtige Detail wird erstaunlicherweise in keiner Biografie erwähnt. Auf der Flucht über die Elbe 1945 beging Benns zweite Frau, Herta, nämlich Selbstmord mit Morphium, das sie von ihm hatte. Bei Benn löste das – selten genug – heftige Schuldgefühle aus.
Nachvollziehbar zeigt Dyck, dass Benn 1933 wie schon die Jahre zuvor sich in einer bedrängten ökonomischen Situation befand und ständig vom Gerichtsvollzieher bedroht war. Nach dem Rücktritt Heinrich Manns sah er, der erst 1932 in die Akademie aufgenommen worden war, die Chance, auf dem kulturpolitischen Parkett mitzumischen, seine Kunstvorstellungen durchzusetzen und das Gremium aus dem politischen Gezänk der Nazis herauszuhalten. Den „Arier“-Nachweis wiederum musste er erbringen, um als Arzt seine Zulassung zu behalten. Benns verquaste eugenische Züchtungsfantasien rechtfertigt Dyck unter anderem damit, diese seien auch im Ausland kultiviert worden. Wohl wahr. Nur hätte Dyck, der unzählige historische Fakten vorbringt, wissen können, dass es eben nur die Nationalsozialisten waren, die den überbordenden Ansprüchen der Wissenschaft keine Grenzen setzten. Vielmehr trieben sie diese über die legitimen Grenzen und sicherten sie mittels Gesetze und Institutionen (Erbgesundheitsämter) ab, mit allen bekannten Folgen. Benn war gewiss kein Antisemit, und als Arzt folgte er wohl seinem sozialen Gewissen. Soviel bekannt ist, hat er als Oberfeldarzt im Zweiten Weltkrieg für die Hinterbliebenen von Selbstmördern in der Wehrmacht großzügige Versorgungsregelungen getroffen. Für die „arischen“ wohlgemerkt, denn, so ließ Benn den in Südfrankreich im Exil lebenden Klaus Mann in seinem berühmten „Offenen Brief“ 1933 wissen: „Dem deutschen Arbeiter geht es heute besser als zuvor.“
Merkwürdigerweise ist es dieses Ausschlagen der ausgestreckten Hand Klaus Manns, das die Biografen noch heute entsetzt. Mann hatte sein verehrtes Vorbild Benn zurückholen wollen aus der Zone der Barbarei. Der „Verrat“ an diesem „reifen“ jungen Dichter (Gunnar Decker) scheint bis heute unfassbar. Wie viel unfassbarer aber, dass Benn in dem Rundfunkgespräch mit Peter de Mendelsohn die „literarische Emigration“ vor sein Tribunal zitierte und sie aufforderte, ihre Flucht posthum zu legitimieren. Das war 1950.
Zu dieser Zeit fuhr Benn, spät schon und ausgezeichnet mit dem Büchner-Preis (1951), endlich in den Dichterolymp auf. Glück für ihn, dass die Nazis frühzeitig auf ihn verzichtet und ihm 1938 sogar Schreibverbot erteilt hatten. Vieles hätte er sich sonst vielleicht abhandeln lassen – nur nicht die Form seiner Kunst. „Wessen ist das und wer?/Dessen, der alles machte,/dessen, der es dann dachte/vom Ende her“?, diese Zeilen durfte er, schon angekränkelt von Zweifel, 1934 noch in die gleichgeschaltete „Literatur“ einrücken.
„Vom Ende her gedacht“ ist das Experiment des „Neuen Staats“ des Gottfried Benn schief gelaufen. Ob es aber die Liebhaber seiner Lyrik tröstet, ihn als „schizothymen“ Charakter, zerrissen ob seiner Doppelexistenz (auch die Frauen betreffend), zu sehen wie Gunnar Decker? Zumindest ist es eine hübsche Idee des jüngeren Biografen, jedem Einzelkapitel seines Benns, der erfrischend frei von Jargon ist und nur hinsichtlich des Frageduktus etwas enervierend, einen zusammenfassenden „barocken“ Vorspann voranzustellen. Vom Ende her gedacht sozusagen. Und wenn „die Geschichte“ spricht, haben, weiß Benn, ohnehin alle zu schweigen.
Gunnar Decker: „Benn. Genie oder Barbar“. Biografie. Aufbau Verlag, Berlin 2006. 544 S., 26,90 € Joachim Dyck: „Der Zeitzeuge. Gottfried Benn 1929–1949“. Wallstein-Verlag, Göttingen 2006. 463 Seiten, 39 €ĽHelmut Lethen: „Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit“. Rowohlt Berlin, 2006. 315 Seiten, 22,90 €