zwischen den rillen
: Ein Album voller Tod

Eine Stimme zerbröselt und erodiert: „American V – A Hundred Highways“ präsentiert Johnny Cashs letzte Aufnahmen

Seitdem Johnny Cash am 12. September 2003 starb, hat sich der Ruhm des Sängers vervielfacht und wurde umfassend. Hollywood nahm sich seiner an; „Walk the Line“ heißt der Film, der die erste Hälfte des Lebens von Johnny Cash gleichermaßen zeigt wie mystifiziert. „Unearthed“ erschien, die Compilation der „American Recordings“-CDs, die Cash gemeinsam mit dem Produzenten Rick Rubin aufnahm – dem Mann, der Cash seit den Neunzigern davor bewahrte, als altes Zirkuspferd des Musik- und Showgeschäfts zu enden.

Rubin brachte Cash weg von schwülstigen Arrangements, von musikalisch eher peinlichen Auftritten mit seiner halben Familie, von Tanzbärenveranstaltungen wie der Peter-Alexander-Show, in der Cash 1992 tatsächlich zu Gast war und dort höchst zweifelhafte Duette mit seinem ölfilmigen Gastgeber sang. In dieser Phase seiner Karriere schien Cash mit allen Wassern und Abwassern gewaschen. Doch er hatte Glück; Rick Rubin reduzierte ihn auf seine Substanz: klare, einfache Musik, prägnante Songs, gespielt von Cash und nicht minder beseelten Musikern, und über alles herrschte die einzigartige Stimme von Johnny Cash, einer Stimme, die das Gewicht der Wahrheit tragen kann und trägt.

Knapp drei Jahre nach seinem Tod erschien jetzt Cashs letztes Album: „American V – A Hundred Highways“. Cash aufersteht noch einmal, der Mann in Schwarz, ein Prediger, ein Sänger, ein Wanderer, ein Hobo: „I have been a rover, I have walked alone, like a hundred highways, never found a home“, singt Cash, unprätentiös, als wäre nichts dabei, als klebten nicht Meilen und Meilen an seinen Stiefeln. Cash sieht zurück auf sich, sein Leben und auf die Welt und zieht sein Resümee. Es fällt milde aus: „Love’s been good to me.“

Der bei postumen Veröffentlichungen schnell aufkommende Verdacht der künstlerischen und kommerziellen Leichenfledderei geht gegen „A Hundred Highways“ ins Leere. Es handelt sich um Lieder, die Cash explizit noch veröffentlichen wollte. Auch bei seiner letzten gemeinsamen Arbeit mit Rick Rubin standen Cash Musiker zur Seite, die alle Nuancen und Schwingungen des Materials ausloten und den dunklen, düsteren und von tiefer Trauer durchzogenen Liedern Schwingen verleihen. Zwei der Songs stammen von Cash selbst; in „Like the 309“, dem letzten Lied, das er schrieb, trifft er auf den Tod, einen vertrauten Gefährten, den er sarkastisch „Doctor Death“ nennt.

Es ist viel Tod auf diesem Album, nicht nur in der brüchigen Stimme von Johnny Cash, auch in den Texten. Den Begräbnissong „On the evening train“ von Hank Williams singt Cash so anrührend wie gleichermaßen abgehangen selbstverständlich, wie das vielleicht nur jemand kann, der sich über Jahre daran gewöhnt hat, dem Tod ins Auge zu sehen – dem eigenen Sterben und dem geliebter Menschen: „It’s hard to know she’s gone forever / They’re carrying her home on the evening train.“

Was schon auf den Vorgängeralben der „American Recordings“-Produktionen zu hören war, erweist sich erneut auf „A Hundred Highways“: Welches Lied Johnny Cash auch covert, es gewinnt an Tiefe, Substanz und Kraft. Das gilt für „Further on up the road“ von Bruce Springsteen – und besonders für Gordon Lightfoots „If you could read my mind“. Was immer über den Verlust einer großen Liebe zu sagen ist, über den Schmerz eines sterbenden Gefühls, das nicht wieder zum Leben erweckt werden kann, mit keinem Mittel, das nicht aufhört wehzutun, bis es endlich tot ist: Cashs mürbe, auf den Tod müde Stimme jagt es uns unter die Haut.

Cashs vom Sensenmann schwer gezeichnete Stimme erodiert und zerbröselt, sie stirbt förmlich beim Singen. Es ist an der Grenze des Erlaubten oder hat diese Grenze überschritten, Cash singt den Soundtrack zu seinem eigenen Tod, die Privatheit seiner Stimme ist schier nicht auszuhalten und treibt einem das Wasser mit Macht in die Augen. Cash singt aus seinem Grab, er singt sein eigenes Requiem, und wir dürfen ihn hören, ein letztes Mal. WIGLAF DROSTE

Johnny Cash: „American V – A Hundred Highways“ American Recordings