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Archiv-Artikel

„Wir sind eine Koalition der Einladung“

NRW Sie will Gemeinschaftsschulen, aber keinen Schulkrieg wie in Hamburg. Die designierte Kultusministerin Löhrmann setzt auf wechselnde Mehrheiten

Sylvia Löhrmann

Politik: Die heute 53-Jährige ist seit 1995 Landtagsabgeordnete in Nordrhein-Westfalen, fünf Jahre länger als die neue Ministerpräsidentin. Sie war Fraktionssprecherin und hatte seit 2000 das neu geschaffene Amt der alleinigen Fraktionsvorsitzenden inne. In Abgrenzung von den „Fundamentalisten“ um Bärbel Höhn gründete sie einst die „Regierungslinke“. Im Landtagswahlkampf hielt sie sich als Spitzenkandidatin eine Koalition mit der CDU ausdrücklich offen.

Leben: Zunächst im einfachen Essener Norden aufgewachsen, besuchte sie ein katholisches Mädchengymnasium, dem sie auch nach dem Umzug in ein besseres Stadtviertel treu blieb. „Die Entscheidung beruhte auf einer wertegebundenen Situation bei uns zu Hause“, sagt sie heute zu ihrer Schulwahl. „Unsere Schule war und ist sehr sozial. Sie fördert Mädchen aktiv. Ich habe einen gewissen Schonraum erlebt, der mir damals gut bekommen ist. In einer Ellenbogenkonfrontation mit Jungs hätte ich mich vielleicht gar nicht so entwickeln können.“ Der katholischen Kirche gehört Löhrmann bis heute an.

Ministerium: In der rot-grünen Minderheitsregierung übernimmt Löhrmann das Schulressort – und damit die Verantwortung für das wichtigste Reformprojekt. Anders als in Hamburg wollen die Grünen in Nordrhein-Westfalen die Gemeinschaftsschule nicht flächendeckend einführen, sondern die Entscheidung den Verantwortlichen in den einzelnen Kommunen überlassen. (rab)

INTERVIEW RALPH BOLLMANN, MATTHIAS LOHRE UND ANDREAS WYPUTTA

taz: Frau Löhrmann, Nordrhein-Westfalen ist fünfmal so groß wie alle übrigen Länder mit grüner Regierungsbeteiligung zusammen, im Bund ist Ihre Partei in der Opposition. Wie fühlen Sie sich als mächtigste Grünen-Politikerin Deutschlands?

Sylvia Löhrmann: Das sind doch männliche Zuschreibungen. Wir haben einen guten Wahlkampf gemacht. Jetzt freue ich mich, dass wir mit der Regierungsarbeit anfangen können.

Sie gelten als heimliche Ministerpräsidentin. Dass es überhaupt eine Minderheitsregierung gibt, war Ihre Entscheidung, nicht die der SPD.

Ich habe zu einem bestimmten Zeitpunkt deutlich gemacht, was ich politisch für klug halte. Aber Sie müssen sehen: Hannelore Kraft hat eine viel schwierigere Rolle inne als ich. Sie ist es, die sich dem Risiko einer Wahl stellen musste. Jetzt regieren wir gemeinsam, darauf kommt es an.

Sind Sie die Köchin, und Frau Kraft kellnert?

Quatsch – mal kocht die eine, mal die andere, mal kochen wir zusammen. Entscheidend ist, dass die Rezepte stimmen und wir über den Menüplan einig sind.

Bei den Koalitionsverhandlungen kamen Sie mit durchgerechneten Konzepten, die Sie für Schwarz-Grün vorbereitet hatten. Die SPD war auf Opposition eingerichtet und deshalb nicht präpariert.

Das mag eine Wahrnehmung von außen sein, ist aber nicht unsere Denke. Für uns sind die Inhalte entscheidend. Da freuen wir uns, dass wir Rot-Grün unter diesen Umständen anders gestalten können, als es in der Vergangenheit der Fall war. Und natürlich sind wir ein eigenständiger Partner.

Sehen Sie Ihre Minderheitsregierung als Modell für den Bund, wie es SPD-Chef Sigmar Gabriel formuliert hat?

Jedes Land, jede politische Ebene hat spezifische Bedingungen. Aber eines kann Vorbild sein: die neue Kultur der Demokratie, auf die wir mit unserer Koalition der Einladung zielen.

Erhört wird die Einladung wohl nur von der Linkspartei, obwohl Sie eine Tolerierung zuvor ausgeschlossen haben.

Eine Tolerierung ist eine vertragliche Regelung. Wir setzen auf wechselnde Mehrheiten. Bei der Abschaffung der Studiengebühren ist wohl eher die Linkspartei dabei – anders als im Saarland, wo wir das mit CDU und FDP realisieren. Bei der Integration von Menschen mit Behinderungen zeigt sich dagegen die CDU sehr offen. Die FDP schließlich wird sich dem kostenfreien Kitajahr kaum verweigern können.

Glauben Sie wirklich, dass Ihnen ausgerechnet diese Parteien aus der Patsche helfen?

Wer sich ständig verweigert, wird seiner Verantwortung gegenüber dem Land nicht gerecht – und muss sich dann auch der Frage von Neuwahlen stellen. Das scheut die Opposition angesichts der aktuellen Umfragen und des schwarz-gelben Desasters in Berlin. Zumindest einige Abgeordnete dürften da ein überraschendes Stimmverhalten an den Tag legen. Oder sie finden sich bei der entscheidenden Haushaltsabstimmung nicht im Plenum ein. Wenn das nur zwei Kollegen aus den anderen Fraktionen tun, würde es für eine Mehrheit schon genügen.

Wen haben Sie da im Blick?

Die FDP müsste momentan am meisten um den Wiedereinzug in den Landtag bangen.

Dass sich die FDP doch noch zu einem Regierungseintritt entschließt, glauben Sie nicht?

Bei den Sondierungsgesprächen hatten wir geradezu den Eindruck, mit zwei verschiedenen Parteien zu verhandeln. Diesen Richtungsstreit muss die FDP selbst entscheiden, unsere Aufgabe ist das nicht.

Die Grünen sind dazu bereit – trotz extremistischer Ansätze in der FDP, wie ihr designierter parlamentarischer Staatssekretär sagte?

Innerhalb des demokratischen Spektrums ist die Linke das staatsfixierte Extrem, die FDP das entgegengesetzte.

Die Grünen sind die Mitte?

Zumindest im Verhältnis zu diesen kleinen Konkurrenten. Wir wollen, dass der Staat einen ordnungspolitischen Rahmen setzt. Als Partei der Zivilgesellschaft wissen wir aber, dass sehr viel von unten wachsen kann.

Wenn es vorgezogene Neuwahlen gibt, ist Schwarz-Grün wieder eine Option – womöglich mit einem CDU-Landesvorsitzenden Norbert Röttgen?

Unsere Strategie hat sich bewährt, Rot-Grün zu wollen und darüber hinaus Zweitoptionen zu haben. Die Wähler haben es uns abgenommen, dass wir das streng an Inhalten entscheiden. Dann kommt es darauf an, auch einen möglicherweise grüner wirkenden CDU-Landesvorsitzenden zu enttarnen – der sich ja jetzt beim Atomausstieg offenbar nicht durchsetzt.

Das Risiko des Scheiterns liegt bei Frau Kraft, nicht bei Ihnen?

Leben ist immer lebensgefährlich, das gilt für alle Beteiligten.

Als Erstes beschließen Sie eine zusätzliche Neuverschuldung von 2,4 Milliarden Euro. Ist das grüne Nachhaltigkeit?

Wir legen die wahre Situation des Haushalts offen, die Schwarz-Gelb systematisch verschleiert hat. Wenn es die wirtschaftliche Situation zulässt, werden wir ab 2011 konsolidieren. Das ist unser gemeinsames Ziel.

Ist eine Minderheitsregierung besonders teuer, weil sie von Linkspartei bis FDP Stimmen zusammenkaufen muss?

Es geht nicht um Geschenke. Wir setzen um, wofür wir gewählt worden sind.

Setzen Sie den Rotstift an, wird die Linke kaum zustimmen.

Auch die Linke kann sich einer zukunftsorientierten Haushaltspolitik nicht verschließen.

Beim Thema Klimaschutz ist der Koalitionsvertrag besonders lau. Sie halten sich eine Verlängerung des Kohlebergbaus offen, schließen den Neubau von Kohlekraftwerken nicht aus – und formulieren ein weniger ambitioniertes Klimaziel als Schwarz-Gelb in Berlin.

Moment mal. Über den Kohleausstieg wird in Berlin entschieden, nicht in Düsseldorf. Im Übrigen hat RWE schon erklärt, dass der Konzern in ganz Europa keine neuen Kohlekraftwerke bauen will. Uns kommt es auf vernünftige Ergebnisse an, nicht auf Verbalradikalismus.

Ihr Bundesland ist der größte Klimasünder Deutschlands. NRW produziert ein Drittel der bundesweiten Emissionen, bei einem knappen Viertel der Bevölkerung. Müssten Ihre Klimaziele ambitionierter sein?

Wir meinen unsere Ziele ernst, das ist der Unterschied. Schwarz-Gelb hat keinen konkreten Umsetzungsplan. Wir haben dagegen nur das aufgeschrieben, was wir wirklich schaffen können.

Trotzdem haben wir den Eindruck, Ihre Kollegen in Hamburg und dem Saarland haben mit der CDU mehr durchgesetzt als Sie im Bündnis mit der SPD.

Diesen Eindruck teile ich nun gar nicht.

In der Bildungspolitik geht Hamburg viel weiter. Dort wird die Gemeinschaftsschule flächendeckend eingeführt.

Das ist ein völlig anderer Ansatz unter völlig anderen Bedingungen – nicht Stadtstaat, sondern großes Flächenland. Wir wollen keinen Schulkrieg, deshalb haben wir lange vor der Hamburger Reform unser eigenes Modell entwickelt. Das Land trägt auch weiterhin die Verantwortung für das staatliche Schulwesen, aber innerhalb dieses Rahmens entscheiden die Kommunen über das örtliche Angebot.

Frau Kraft hätte die Reform lieber von oben herab dekretiert?

Keine Ahnung. Ein solcher Vorschlag stand jedenfalls mit uns nicht zur Debatte.

Warum sind Sie so sicher, dass Sie tatsächlich eine Quote von 30 Prozent Gemeinschaftsschulen erreichen – wenn etwa im schwarzen Münsterland die Anträge ausbleiben?

Weil ich gerade aus dem Münsterland gefragt werde, wann wir die Gemeinschaftsschulen endlich genehmigen. Die demografische Entwicklung ist unser wichtigster Bündnispartner. Bevor ein Bürgermeister wegen schrumpfender Schülerzahlen die Schulen am Ort verliert, wird er sie lieber zusammenlegen. Egal, welcher Partei er angehört.

In Hamburg steht die Gemeinschaftsschule am Sonntag zur Abstimmung. Wird Ihr Reformeifer vom Ausgang abhängen?

Keineswegs. Unser Programm ist beschlossen und für NRW klug angelegt.

Welche Folgen hat das Referendum bundesweit?

Wenn die Gegner gewinnen, wird es die Reformbereitschaft leider lähmen.

Ist das Land bereit für Veränderungen?

Ja, die Unzufriedenheit mit dem bestehenden Schulsystem ist groß. Aber wenn Reformen gefühlt zu radikal ausfallen, setzen Abwehrreflexe ein. Das haben wir in der Auseinandersetzung um die Gesamtschulen in den siebziger Jahren erlebt.

Würden Sie Ihre Schulreform lieber wie in Hamburg gemeinsam mit einem CDU-Regierungschef durchsetzen, statt gegen eine geschlossene Front der Konservativen zu kämpfen?

Eine geschlossene Front gibt es in NRW nicht. Aber Sie meinen, ich wünsche mir einen Ole von Rüttgers? Um mir ein solches Wesen vorzustellen, reicht meine Fantasie nicht aus.