Bis nach ganz unten

Das Zeitalter der Entdeckungen ist tot, alles erforscht? Von wegen: Franck Goddios Ausstellung „Ägyptens versunkene Schätze“ ist eine perfekt inszenierte Sensation

von KLAUS HILLENBRAND

Was gibt es noch zu entdecken? Die Welt erforscht bis auf die kleinste Südseeinsel. Mit dem Computer kann heute jeder Trottel dank Google World eine Entdeckungsreise machen, vom Schreibtisch aus – aber er wird nichts Neues mehr finden. Gefahrvolle Überlandreisen in Europa? Eine sympathische Stimme erklärt in jedem besseren Mittelklassewagen freundlich, an welcher Ecke man bitte links abzubiegen hat, um ohne unnötige Verzögerung das programmierte Ziel zu erreichen. Alles ist längst gefunden, gerastert, erfasst, nachzuschlagen. Denkt man.

Aber wer hat schon von dem Archivar in Leipzig gehört, der vor ein paar Wochen eine einmalige Handschrift aus dem 9. Jahrhundert, unscheinbar eingebunden in den Einband eines Buchs aus dem 17. Jahrhundert, entdeckt hat? Was ist mit dem Chemiker, der einen neuen Wirkstoff erforscht, was mit dem Flugingenieur, der erfolgreich neue Verbundstoffe zur Gewichtsverringerung testet?

Nicht viel besser ergeht es den zehntausenden Archäologen, die oft unter erheblichen Anstrengungen die Geschichte aus dem Boden zu bergen suchen. Die allermeisten Funde landen noch nicht einmal in den Spalten der Lokalzeitung, bestätigen und untermauern sie doch „nur“ bereits vorhandenes Wissen. Bei der Rekonstruktion der Geschichte geht es ohnehin immer weniger um das Bergen spektakulärer Riesenmauern als beispielsweise darum, aus Bodenverfärbungen auf längst vergangene biologische Substanzen zu schließen oder anhand von Getreide- und Knochenresten den täglichen Speiseplan unserer Urahnen zu untersuchen.

Als wahrhaftige Entdeckungen gelten nur solche, die die halbe Menschheit in ihren Bann ziehen. Sie sind rar gesät, finden sich meist nur hoch oben und ganz tief unten – genauer: im Weltraum, unter der Erde und tief unter Wasser.

Franck Goddio ist unter der Wasseroberfläche fündig geworden. Dank der Schätze aus den untergegangenen ägyptischen Städten Alexandria, Kanopus und Heraklion wurde er endgültig zu einem Popstar der Wissenschaft. Noch bis Anfang September sind die wunderbaren Funde im Berliner Martin-Gropius-Bau zu bestaunen, die Goddio und sein Team aus den Fluten des Mittelmeers gehoben haben. Goddio hat nicht nur einmalige Kunstwerke entdeckt, sondern den Standort zweier versunkener Städte noch dazu. Es sind legendäre Stätten, über die die antiken Schriftsteller berichtet haben, Städte, die vor über 1.000 Jahren durch Bodenabsenkungen und Erdbeben in der See verschwanden. Die Funde umfassen eine Periode von 15 Jahrhunderten: von der Zeit der letzten Pharaonen über den Aufstieg der ptolemäischen Könige zur römischen Herrschaft und, darüber hinaus, bis zur christlichen Spätantike und dem Beginn islamischer Herrschaft.

Kanopus, das war ebenso wie Heraklion eine Vorstadt Alexandrias, der von den Ptolemäern gegründeten Metropole, mit dieser durch einen schiffbaren Kanal verbunden. Vor 2.200 Jahren bildete diese Großstadt das Zentrum der Welt: Mit weit mehr als 100.000 Einwohnern für damalige Verhältnisse riesenhaft, war Alexandria mit seinen Vorstädten zugleich größte Handelsmetropole der Erde.

Hier stand mit dem Leuchtturm eines der sieben Weltwunder. Gewaltig war der Hafen. Alexandria barg die Große Bibliothek mit etwa einer halben Million Buchrollen – Bücher im heutigen Sinne gab es noch nicht. Berühmt war die Universität, an der große griechische Philosophen lehrten und lernten. Und auch zu römischen Zeiten, als Alexandria zur Provinzhauptstadt Ägyptens herabgesunken war, blieb die wirtschaftliche Bedeutung der Metropole dennoch überragend.

So hat man denn auch schon seit weit über einhundert Jahren in der modernen Stadt archäologische Zeugnisse gefunden. Vieles freilich muss verborgen bleiben – schließlich ist es den Archäologen nicht möglich, die moderne Stadt zugunsten der versunkenen Trümmer ihrer Vorgängerin abzureißen. Und deshalb ist die Ausbeute unter dem Meeresspiegel so lohnend: Niemand konnte dort Neues über das Alte fügen. Das Wasser wirkte als natürliches Konservierungsmittel. Da mag es paradox klingen, dass die Konservatoren erst mühsam fingerdicke Muschelreste, Korrosionen und andere Ablagerungen von den Fundstücken entfernen müssen, bevor diese auf einer Ausstellung würdig präsentiert werden können.

Da kommt also einer daher, der weder Astronomie noch Archäologie studiert hat, und wird berühmt. Nicht nur die Tagesschau sendet die Bilder, Goddios Entdeckungen ziehen Hunderttausende in ihren Bann. Präsidenten würdigen die Schau: Die spektakuläre Entdeckung ist im Sinne der öffentlichen Aufmerksamkeit nur die Hälfte wert, gibt es nicht auch von einem mutigen Entdecker zu berichten. Er versinnbildlicht das menschliche Leistungsvermögen. Sein Name geht in die Geschichte ein. Und für ein breites Publikum, das weniger an kompliziertem Spezialwissen als an sinnlich wahrnehmbaren Artefakten vom Mondgestein bis zur Riesenstatue interessiert ist, verkörpert der Entdecker die Möglichkeit, einzigartig zu werden – und damit natürlich auch geehrt und berühmt. Und wer will das eigentlich nicht?

In der Berliner Ausstellung steht der anonyme Besucher vor dem Porträt eines Pharaos aus der Zeit um 600 vor Christus. Eine Sphinx aus schwarzem Granit aus dem 4. Jahrhundert vor unserer Zeit. Säulen mit zerfressenen, kaum mehr lesbaren griechischen Inschriften. Eine mehr als mannshohe Stele ist bedeckt mit einem Hieroglyphentext von Nektanebos I., in dem dieser über die Verwendung des Zehnten für die Priesterschaft referiert.

Ptolemäische und römische Goldmünzen glänzen, als seien sie gerade geprägt worden, denn das Salzwasser greift Gold nicht an. Keramik zeugt vom Alltagsleben der Bewohner von Kanopus. Die Statue einer Königin in schwarzem Granit aus dem 3. Jahrhundert vor Christus mit elegantem Faltenwurf stammt vermutlich aus der Großen Bibliothek von Alexandria. Drei riesenhafte Kolossalstatuen aus ptolemäischer Zeit sind im Innenhof aufgestellt. Und wir lernen, dass die abgeschlagenen Köpfe und Glieder vieler Statuen ein Werk der frühen Christen waren, die kein Abbild eines Gottes duldeten.

Franck Goddio aber, der ehemalige Finanzberater, der all die Schätze ans Tageslicht des 21. Jahrhunderts gehoben hat, ist der Star. Er mag noch so häufig betonen, dass er kein Abenteurer ist, weil Abenteuer einer notwendigen exakten Planung und Durchführung zuwiderlaufen: Goddio gilt als der moderne Abenteurer schlechthin, ein Mann, den es vom Aktenstudium im Büro in die faszinierende Unterwasserwelt getrieben hat. Und sein ungewöhnlicher Lebenslauf versinnbildlicht zudem: Auch du kannst es schaffen! Goddio wird damit zur modernen Version jenes Tellerwäschers, der es zum Millionär gebracht hat, quasi vom Aktenfresser zum Archäologen – entsprechend wird der Mann als Popstar in Szene gesetzt. Da mögen studierte Archäologen die Nase rümpfen über eine bisher unzureichende wissenschaftliche Dokumentation der Funde und der Ausgrabungsstätten – die Schau in Berlin und die Geschichte ihres Machers überstrahlen jede Kritik.

Die Fundstücke aus dem Mittelmeer sind freilich nicht alles, was die Ausstellung prägt. Da blubbert unentwegt verbrauchte Luft aus den Atemmasken der Taucher. Auf wandgroßen Unterwasserbildern sind die Begegnungen zwischen den modernen Entdeckern und antiken Artefakten dokumentiert. Ein Raum ist gar ganz im Blau des Meeres gehalten, Sphärenklänge versüßen das Erlebnis.

Manche Kritiker der Ausstellung haben das als übertrieben empfunden, schließlich sprächen die Ausstellungsstücke für sich. Doch sie unterliegen einem großen Irrtum: Nicht die Königinnen, Statuen und Goldmünzen sind der eigentliche Schlüssel zum Erfolg der Show – was so sehr fasziniert, ist, wie diese gefunden wurden. Weltraum schön und gut. Archäologische Bodenforschung: geschenkt. Unterwasserarchäologie ist das Größte!

Tatsächlich verbindet Goddios Arbeit alle Superlative, die zur Begründung einer großen Entdeckung gehören. Da sind natürlich die Fundstücke – spektakulär, schön anzuschauen und bisweilen von gewaltigen Ausmaßen. Nicht zufällig wird in der Ausstellung vermerkt, dass ein Riesenairbus notwendig war, um einige der Schätze von Ägypten nach Berlin zu bringen. Hinzu kommt der wirkungsmächtige Mythos jener untergegangen Orte der Zivilisation – auch wenn die meisten Besucher zuvor noch nie von ihnen gehört haben mögen.

Und schließlich die Art und Weise der Entdeckung: Nicht mühsames und feines Graben, Bodenschicht für Bodenschicht, sondern unter Wasser! Man sieht, dass die geheimnisvollen Fundstücke mit den Sedimenten von Jahrhunderten beschichtet sind. Man hört das Blut rauschen. Kann man sich nicht an den scharfen Kanten der Stele verletzen? Was, wenn der Sauerstoff knapp wird, die Leine reißt? Fürwahr ein Abenteuer.

Große Entdeckungen sind schon immer inszeniert worden. Weltreisende der frühen Neuzeit stellten spektakuläre Behauptungen über nicht existierende Fabelwesen auf, um ihre Entdeckungen zu popularisieren. Im Vergleich dazu stellt die heutige Aufbereitung einen deutlichen Fortschritt dar. Cooks Reisen um die Welt im 18. Jahrhundert, bei denen er unter anderem als erster Europäer die australische Ostküste erforschte, wurde zum Kassenschlager auf dem Buchmarkt. Armstrongs Worte beim Betreten des Erdtrabanten – „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, doch ein großer für die Menschheit“ – entsprangen keiner zufälligen Laune des Astronauten, sondern waren wohl durchdacht.

Und deswegen bleibt gegen die Inszenierung der Entdeckung und ihres Entdeckers im Falle von Franck Goddio und der versunkenen Städte Ägyptens eigentlich nicht viel zu sagen. Ja, ein schnödes Bauunternehmen mit Sitz in Liechtenstein sponsert die ganze Aktion mit vielen Millionen. Vor 40 Jahren war es die Nasa, vor 300 Jahren die britische Krone. Gut, andere Unterwasserarchäologen in Alexandria wie der Franzose Jean-Yves Empereur werden in Berlin mit keinem Wort erwähnt. Spricht heute noch jemand von Johann Fust, ohne dessen Finanzen Johannes Gutenbergs niemals seine Bibel hätte drucken können? Wer kennt Giovanni Caboto, den tatsächlichen Entdecker der Neuen Welt?

Sinnvoller als eine Reise zum Mond ist der Besuch der Ausstellung „Ägyptens versunkene Schätze“ allemal, mehr zu sehen als auf einem flimmernden Schwarz-Weiß-Monitor gibt es sowieso. Und wen die Riesenbilder von Tauchern und Trümmern unter Wasser bei der wissenschaftlich exakten Exegese der Ausstellungsobjekte stören sollten: Er möge einfach weggucken. Aber Hingehen lohnt sich garantiert. Schon deshalb, weil Entdeckungen einfach großartig sind!

„Ägyptens versunkene Schätze“. Noch bis zum 4. September im Martin-Gropius-Bau Berlin, geöffnet täglich außer Dienstag. Eintritt 10 Euro (ermäßigt 6 Euro), Katalog 29 Euro KLAUS HILLENBRAND, 48, ist Chef vom Dienst bei der taz