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Archiv-Artikel

Die Flucht ins Finale

Der italienische Trainer Marcello Lippi glaubt, dass der Liga-Skandal sein Team eher gestärkt als geschwächt hat

DUISBURG taz ■ Nicht einmal ein Bad im Meer kommt an das heran, was Marcello Lippi in den letzten vier Wochen erlebt hat. Und das will etwas heißen. Schließlich war es Lippis größte Freude, nach vielen Jahren als Trainer von Juventus Turin als Nationalcoach endlich wieder an der ligurischen Küste leben zu können – in seinem Geburtsort Viareggio. „Kraft und Ideen“ gebe ihm so ein Sprung ins Wasser, sagt der 58-Jährige, der aus seiner zweiten Leidenschaft in diesen Tagen einen Dauer-Gag gemacht hat. Denn immer, wenn Italien als Favorit ins Spiel ging, scherzte Lippi zuvor: „Falls es schief geht – meine Freunde und die Segelboote zu Hause sind startklar.“ Für eine rasche Flucht, sollte das heißen.

Mit Fluchtgedanken muss sich Lippi vor der sechsten Teilnahme einer italienischen Nationalmannschaft an einem WM-Finale mittlerweile nicht mehr beschäftigen. „Schon jetzt“, sagt Lippi, und seine blauen Augen glänzen dabei, „habe ich Glücksgefühle wie noch nie. Und wenn wir das Ganze in Berlin abrunden, das wäre wunderbar.“ Dass im Zusammenhang mit der Squadra Azzurra von Glücksgefühlen die Rede sein würde, damit war im trüben Fahrwasser des italienischen Fußball-Skandals und bei den täglichen Nachrichten über Gerichtsverhandlungen, Rücktritte und Selbstmordversuche nicht zu rechnen. Doch allen Widrigkeiten zum Trotz könnte Italien am Sonntag seinen vierten WM-Titel nach 1934, 1938 und 1982 feiern.

Neben Fabio Cannavaro und Andrea Pirlo, den überragenden Spielern der Azzurri, liegen die Tifosi deshalb nun vor allem dem Erfolgsstrategen mit der Brille und den weißen Haaren zu Füßen. Wobei der Umjubelte inzwischen zu der Ansicht gekommen ist, dass die ungünstigen Umstände letztlich kein Nachteil waren. Im Gegenteil: „Dieser Skandal hat uns sogar noch stärker gemacht“, sagt der Mann, der mit Juventus Turin, dem am tiefsten in dem Manipulations-Sumpf steckenden Klub, fünfmal die italienische Meisterschaft und einmal die Champions League gewonnen hat. Denn: „Wir haben dadurch einen tollen Zusammenhalt bekommen.“

Seine Spieler scharte der Fußballlehrer, der sich in der Vergangenheit den Ruf eines Sturkopfes erworben hat, nicht zuletzt wegen des Skandals in der Serie A während des Turniers schon mal um sich und fragte geradezu väterlich in die Runde: „Na, alles in Ordnung?“ Vor dem Spiel gegen Deutschland lud er die Mannschaft schließlich zu einem gemeinsamen Gespräch ein. „Es war eine wunderbare Atmosphäre“, berichtete der Trainer später. Der italienische Verband hat Lippis Arbeit längst gewürdigt und ihm vor und auch während der WM eine Vertragsverlängerung angeboten. Doch Lippi winkte stets ab, am Montag, spätestens am Dienstag will er sich mit den Verbandsoberen zusammensetzen. „Wir hoffen, dass Lippi bleibt“, betont Kapitän Cannavaro im Namen der Kollegen schon einmal. Nicht unwahrscheinlich ist allerdings, dass der Mann, unter dessen Führung die Italiener seit 24 Partien ungeschlagen sind, und der in den 28 Spielen als Azzurri-Chef nie die gleiche Startformation zweimal hintereinander aufs Feld geschickt hat, das Angebot des Verbandes ablehnt.

Wegen seiner überraschenden Maßnahmen – wie zum Beispiel im Dortmunder WM-Halbfinale, als am Ende vier italienische Stürmer auf dem Platz standen – heißt Marcello Lippi in der Fachwelt inzwischen mit Zweitnamen „Chamäleon“. Eine weitere Anerkennung für den gebürtigen Toskaner, der seine Karriere bei Roter Stern Viareggio begann und in diesen Tagen auf seine sozialistischen Wurzeln verweist. Wobei nach wie vor gilt: „Der linke Fuß eines Spielers interessiert mich immer noch mehr als eine linke Partei.“ ANDREAS MORBACH