Die Utopie der Kooperation

Die Party und die Nation sind Auslaufmodelle. Doch Klinsmann hat diese Ideologie-Ruinen mit neuem Inhalt gefüllt

Die Party und die Nation sind von Haus aus zwei sehr unterschiedliche, ja antagonistische Formen der Vergemeinschaftung. Die Party ist zwanglos, kaum verpflichtend, aber auch nicht berechtigend. Ihr Ziel ist maximale Intensität oder Nähe, bei minimaler Konsequenz, dieses Verhältnis ist den Beteiligten als Spaß bekannt. Humor, Musikalität, gutes Aussehen, Eleganz und Leichtigkeit gelten als ideale Eigenschaften für die, die auf einer Party besagten Spaß wollen. So hilfreich es ist, über diese Eigenschaften immer schon zu verfügen, das große Versprechen der Party besteht auch darin, erst durch und während der Party so zu werden, wie man sein sollte, sich also zu verwandeln, zu entfalten und wie dergleichen Selbstverwirklichungswünsche sonst so heißen.

Die Nation ist hingegen ein gesellschaftsvertragsartiges Gebilde, das Rechte verheißt und Pflichten einfordert. Darüber hinaus stellt es den ideologischen Kitt dar, wenn es darum geht, faktische Rechtlosigkeit und ungerecht verteilte Lebenschancen und Wertmassen zu legitimieren. Ich bleibe dann arm oder rechtlos, damit es Deutschland besser geht. Früher zog ich auch in den Krieg und gab mein Leben. Und die Nation braucht mich unverwandelt als selbstidentischen, kontrollierbaren Einzelnen.

Wie kann es nun sein, dass der Bezug auf die Nation Gegenstand einer Party wird, und wie kommt es, dass es allen Freunden der Nation und gerade auch ihrer ideologischsten Seiten so gut gefällt, dass das so ist?

Da gibt es mindestens zwei Antworten. Die erste: Beide Begriffe sind Auslaufmodelle, sie haben kein Korrelat mehr in der Wirklichkeit. Partys sind nicht mehr zwanglos und intensiv, sondern geregelt, ein fester Bestandteil einer zwar informellen, aber immer verpflichtenderen sozialen Welt. Sie sind intensiv nur insofern, als sie entweder längst zum Berufs-Stress gehören oder weil sie als reine, desublimierende Trieb4abfuhr, fern von Utopie und Musikalität, einen urbanen Stress-Körper zu seinem Recht kommen lassen. Die Nation verleiht immer weniger Rechte, die dafür umso begehrter sind. Je weniger Arbeitslosengeld, desto mehr globale Konkurrenten um die letzten sozialen Sicherheiten. Ökonomisch ist die Nation längst handlungsunfähig. Party und Nation kommen deswegen so gut zusammen, weil es sie nur noch als Ideologie-Ruinen gibt, und wenn sie sich gegenseitig stützten, sind sie einander dringend benötigte Legitimationsressource. Ihr ideologisches Gewicht wächst jeweils, wenn sie sich einen neuen Inhalt einverleiben und dieser auch noch ihr früheres Gegenteil ist.

Die zweite Antwort aber lautet: Klinsmann.

Klinsmann gab beiden Ruinen einen neuen Inhalt. Anlass der Party war ja nicht einfach Deutschland oder Patriotismus oder Nation, sondern die Kopplung der Nation mit einer bestimmten Idee, Fußball zu spielen. Diese Idee war nicht nur faszinierend, weil aus einer ängstlichen und feigen Mannschaft eine stürmische wurde. Sondern vor allem, weil der berühmte Druck, der ständig auf allen lastete, der Druck, der ständig auf uns allen lastet, der verdammte, bekannte Druck ohne Not von Klinsmann noch gesteigert wurde – „Wir wollen Weltmeister werden“ – und als kreative, lebenssteigernde Kraft gedeutet und erlebt wurde. Gerade die Angst rauszufliegen, der mögliche Ausschluss, wurde in einer fast schon beatnikhaft-altjugendkulturellen Begeisterung für das Ergreifen der Chance, die man nicht hat, ausagiert statt zur lähmenden Last zur Energiequelle.

Und dieser neue Umgang mit dem guten alten Feind „Druck“, das ist tatsächlich das Typische unserer Epoche, erscheint Neoliberalen, Management-Esoterikern und anderen Übelkrähen genauso als ein längst fälliger Befreiungsschlag wie Dissidenten, Systemkritikern oder einfach den unzähligen Abgekoppelten und Verarschten, denen während der WM ständig ein emphatisches Modell des Einschlusses, des Mitmachens, ihrer Zulassung zum großen Gemeinsamen vorgetanzt wurde. Die Schönheit des Risikos und auch das mutige Inkaufnehmen des nun eingetretenen Scheiterns gefällt denen, die tatsächlich ständig vom Ausscheiden bedroht sind, genau so wie denen, die von der Mobilisierung letzter Reserven Anderer profitieren und ihr ganzes Unternehmer-Selbstverständnis auf der angeblich so abenteuerlichen Risikobereitschaft des Kapitalisten aufbauen.

Dieser geniale Kunstgriff, beide Seiten des zeitgenössischen Syndroms, die Neoliberalität und die Prekarität, in den Gestalten ihrer schönen vermeintlichen Vorläufer, Freiheitlichkeit und gefährlich-abenteuerliches Leben erscheinen zu lassen, eint nicht nur die Nation, im Sinne von: spricht alle an. Er schafft auch eine abstrakte Grundlage von Gemeinschaft, die tatsächlich ein Korrelat hat. Nicht in der Geschichte, der Hymne, der Fahne – über deren immer schon freiheitlichen Charakter unsere ganzen neopatriotischen Sinnstifter sich die Zunge wund faseln –, sondern in der rein formalen Gemeinsamkeit zwischen Neoliberalen und Prekären, der Bindungslosigkeit, dem Risiko, dem Tumulthaften.

Dieser formalen Gemeinsamkeit eine Gestalt in einem Mannschaftssport, in einem Team zu geben, sie also mit der Utopie der Kooperation auszustatten, ist in der Tat mehr Sinn, als sich die Ideologen der gegenwärtigen Tendenz von einem Event wünschen konnten. Als Ideologiekritiker kann einen das gruseln, als Kunstkritiker ist man beeindruckt, wie die Verhältnisse zu einer triftigen Form gebündelt sind. Beim Fußball entsteht Schönheit ja durch sichtbar schnell erfasste Situationen, das Vorgefundene gehört immer dazu: Man kann nicht entscheiden, ob solche Form sich deskriptiv oder normativ zur gesellschaftlichen Realität verhält. Sie enthält ja immer beides, Setzung und Gehorsam, einer Regel folgen, eine neue Regel einführen. Man kann nur erkennen, in welcher Gesellschaft sie sich wähnt.

Natürlich sind aber auch diese formalen Gemeinsamkeiten nicht national oder nationenspezifisch. Doch Klinsmanns Mannschaft war die einzige, die so gespielt hat, während die anderen Europäer alle symbolisch noch in wohl funktionierenden Wohlfahrtsstaaten mit sicheren Renten oder aber durchdisziplinierten Rackets und Syndikaten spielten, die es über die 90 Minuten zu bringen gelte. Was ja auch gar nicht so falsch ist, aber fern von der nicht immer ganz unkitschigen, romantischen Schönheit des Risikospiels. Den Deutschen wurden dagegen die neuen prekären Verhältnisse fußballästhetisch als Nationalcharakter vorgespielt. Und sie haben ihn angenommen, nicht nur fußballästhetisch, sondern auch in der Vergesellschaftungsform der Zwangsparty mit all ihren postfordistischen Performances, das Dabeisein garantierenden Ehrenämtern und serviceindustriellen Kurzarbeitsverhältnissen. Diese Form wird bleiben, die Begeisterung über sie aber abnehmen. Die Ideologen werden noch eine Weile weiter diese Begeisterung als Begeisterung für Deutschland einfordern. Dann ist übrigens auch bald wieder Love Parade. Und Tour de France. Zum Bundesliga-Beginn kehrt dann wieder Ruhe ein.