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Archiv-Artikel

Auf dem Jakobsmuschelweg

Alle reden und schreiben vom Pilgern nach Santiago de Compostela. Wer dabei Stille, Kontemplation und ein ganz neues Ostgefühl erleben will, dem sei der Wegabschnitt von Görlitz bis Vacha empfohlen. Pilgern auf der alten Königsstraße

Zwei oder vielleicht fünf Pilger am Tag pro Etappe – mehr gehen diesen Weg nicht

von CHRISTEL BURGHOFFund EDITH KRESTA

Westwärts. Nicht nur die Jugend von Görlitz zieht es „nach drüben.“ Gen Westen geht auch unser Weg. Ein Wanderweg auf der historischen Via Regia, ehemals Königsweg oder Hohe Straße. Wenn wir wollten, könnten wir ihm von Görlitz durch ganz Europa folgen bis ans westliche Ende von Spanien, nach Santiago de Compostela. Görlitz ist eine alte gewachsene Stadt. Eine alteuropäische Bilderbuchstadt voller Barock und Jugendstil. Eine der wenigen deutschen Städte, die keine Weltkriegsbomben erleben mussten. Nirgends wurde in den letzten Jahren so liebevoll, so perfekt und mit so viel Geld restauriert. Heute siedeln sich wieder Neubürger an in Görlitz: gutbetuchte Mittelständler, ruhebedürftige und weit gereiste Senioren. Sie leben idyllisch am Ufer der Neiße mit Blick auf das gegenüberliegende Polen.

Zwischen Görlitz an der Neiße und Vacha an der Werra wurde die Via Regia auf gut 450 Kilometern als „Ökumenischer Pilgerweg“ ausgeschildert und beschrieben. Das ist nicht überall so auf dem Weg nach Santiago de Compostela. Doch für die Religionspädagogin Esther Zeiher, die beim Wandern in Deutschland und Spanien die „tiefe Erfahrung“ des Pilgerns machte, wurde der Weg zur Berufung: „Ich war völlig erstaunt, dass diese mittelalterliche Tradition, von der ich als Protestantin gelernt hatte, es sei gut, dass es sie nicht mehr gibt, immer noch lebt. Und sie lebt so, wie auch ich mein Wanderjahr erlebt habe: dass Menschen losgehen mit einer diffusen Sehnsucht, von der sie getrieben sind“, erzählt die junge Mutter, die bis vor kurzem in Großenhain bei Dresden lebte. Ein holländischer Herbergsvater hatte ihr in Spanien eine Karte mit den Pilgerwegen durch ganz Europa gezeigt. „Die Linie durch Ostdeutschland hat sich mir eingeprägt, und ich wusste, die gilt es jetzt mit Herbergen zu bestücken und auszuschildern.“

Esther Zeiher organisierte den Pilgerweg mit finanzieller Unterstützung der Robert Bosch Stiftung. Sie suchte gangbare Wege, Übernachtungsmöglichkeiten und entwickelte einen handlichen Pilgerführer. Einstmals war die Via Regia der wichtigste Handelsverbindungsweg zwischen Galizien und Galicien. Eine europäische Lebensader. Heute tauchen wir gleich hinter Görlitz ein in die Stille weiter, gefälliger Landschaften. Getreidefelder auf sanften Hügeln, wohin das Auge blickt. Wir gehen durch Hohlwege und über Alleen mit altem Baumbestand. Erstaunlich viele Kirschbäume und Eichen säumen die Wege. Kleine Schilder mit einer gelben Jakobsmuschel auf blauem Grund weisen die Route aus.

„Sie gehen auf dem Muschelweg?“, fragt ein Ortsansässiger, als wir uns nach der Markierung umsehen. Er kennt die Richtung. Pilgern war im protestantischen Osten kein Begriff. Das hat sich nun geändert. „Die Bestellungen für den Pilgerführer kommen nicht mehr wie früher vorwiegend aus den westdeutschen Bundesländern. Die Nachfrage ist auch im Osten steigend“, weiß Esther Zeiher.

Auf unserer ersten Pilgerstation im „Landkino Arnsdorf“ erzählt der dortige evangelische Pfarrer Andreas Fünfstück: „Anfangs waren die Leute skeptisch wegen dem Weg. Man wusste ja nicht, wer hier vorbeikommt, ob überhaupt jemand hier wandern will. Jetzt interessiert man sich für die Pilger, überlegt sogar selber zu pilgern.“ Fünfstück trägt schwarze Lederhosen und wirtschaftet mit seiner Frau, einer Sozialtherapeutin, auf dem Arnsdorfer Pfarrgelände. Mit seinem geräumigen Hof, dem Kirschbaum im Zentrum und den vielen Blumen, mit der kleinen Kirche und dem Friedhof dahinter, wirkt das Anwesen südländisch entspannt. Die Gemeinde hat die Gebäude renoviert und multifunktional umgerüstet: die Scheune zum „Landkino“ und Festsaal samt Bühne, das Vorratsgebäude zum rustikalen Bierausschank. Ein guter Ort zum Feiern. Gerade jetzt trifft eine Hochzeitsgesellschaft die Vorbereitungen für das Fest am folgenden Tag. Über Dekorationen, zwischen Tischen und vielen Stühlen schlängeln wir uns hindurch zu unserem Pilgerzimmer unterm Scheunendach. Für Pilger wurden hier zwei Räume hergerichtet. Und eine neue Verwöhndusche im Hof. „Wir versuchen hier, die unterschiedlichen Gruppen zusammenzubringen“, sagt Pfarrer Fünfstück, „die Feuerwehr, die Landfrauen. Selbst den Kindergarten haben wir wieder eröffnet. Und erfreulicherweise kümmern sich die Leute hier jetzt selbst darum.“

Es scheint, dass mit diesen Aktivitäten das menschliche Netz neu geknüpft und das soziale Gefüge neu aufgebaut wird. Keine Familie in dieser Gegend, die keine Abwanderung „nach drüben“ kennt. Häufig sind alle Kinder gen Westen gezogen. Über zwei Gasthäuser verfügte der kleine Ort noch vor wenigen Jahren. Sie stehen leer und verfallen. Das Landkino und die Veranstaltungen an der Kirche sind jetzt der soziale Mittelpunkt. Und die Pilger passen in diese „Kirche von unten“ gut hinein. „Der Pilgerweg ist deshalb akzeptiert, weil er nicht kommerzialisiert ist. Es erhöht den Wert der Region, wenn Fremde trotzdem hierher kommen“, sagt der Pfarrer.

Wo sich Pfarrer für die sozialen Belange engagieren, ist auch die Bedeutung der Kirche gewachsen. Einen Tag und drei Orte weiter geraten wir wieder in eine Hochzeitsgesellschaft. In Buchholz empfängt uns der evangelische Pfarrer mit strahlenden Augen. „Pilger!“ Und Pilger werden bewirtet. Wir bekommen Kaffee in der Küche des Pfarrhauses, wo das Büfett vorbereitet wird. Draußen am Grill hängt ein Spanferkel für die Feier nach der Trauung des sehr jungen Paars. Gefeiert wird in der Tenne auf dem Pfarrgelände, auch eine umgebaute und multifunktional eingerichtete Scheune. Kultur auf dem Land wird hier angekündigt. Auch hier gründete der Pfarrer einen Verein, um an Fördermittel zu kommen. Selbst die alte kleine Schule, wo unterm Dach die Pilger unterkommen, ist völlig neu hergerichtet.

Freudig begrüßt zu werden, wo immer man eintrifft, das hat was. Wanderer sind empfindlich, zu Fuß unterwegs lässt man sich mehr auf die Menschen und ihre Umgebung ein. Was immer geschieht, einen Wanderer geht es direkt an, etwa der Frust, der von geschlossenen Gasthäusern ausgeht. Die überfällige Mahlzeit oder zumindest ein dringend benötigter Kaffee – alles fällt plötzlich weg. Nicht nur die Menschen im deutschen Osten, auch wir haben ein Problem, wenn wir einen Bus gebrauchen könnten und dann erfahren, dass keiner mehr fährt, dass Bahnverbindungen ersatzlos gestrichen wurden.

Die Infrastruktur in dieser Gegend dünnt aus. Andere Wanderer bekommen wir nicht zu Gesicht. Zwei oder vielleicht fünf Pilger am Tag pro Etappe – mehr gehen diesen Weg in den Sommermonaten noch nicht. Unsere Wanderung wird von Kuckucksrufen begleitet. Ab und an sichten wir einen Storch. Auf alten Pfaden geht es vorbei an manchen verfallenden Gebäuden, aber auch durch schöne Dörfer mit alten Kirchen, vorbei an einem Wasserschloss. Der Weg beschreibt einen nördlichen Bogen um Dresden. Auf etlichen Strecken verläuft die Wegführung tatsächlich auf den Stolpersteinen der originären Via Regia. Wo die alte Trasse zur Bundesstraßen wurde, liegt die Wanderroute immer etwas abseits. Die Ortsschilder der kleinen abgelegenen Dörfer sind alle zweisprachig. Es ist sorbisches Gebiet.

Überraschung dann wieder in Bautzen. So prächtig wie Görlitz ist Bautzen im historischen Stadtbereich saniert. Stadt der Türme, so nennt sich Bautzen heute. Der früher berüchtigte Stasiknast ist nun ein Museum. Die Stimmung in der Stadt ist großartig. Gefeiert wird das Frühlingsfest mit zahlreichen Bühnen, Buden und deftigen Gerichten. Stadtleben.

Unsere nächste Station ist ein barockes Kloster. Auf den ersten Blick wirkt es wie aus der Zeit gefallen: ein großes Anwesen samt Park und Gastronomie im Ländlichen. In St. Marienstern leben noch 19 Zisterzienserinnen. Die Nonnen betreiben auf dem Anwesen mehrere Behinderten- und Pflegeeinrichtungen. Dafür beschäftigen sie 120 Mitarbeiter. Ein größerer mittelständischer Betrieb, so charakterisiert eine freundliche Nonne die Einrichtung. Wer hier einkehrt, klingelt an der historischen Klosterpforte. Und wer dann für eine Nacht bleibt, wird mit einem guten Frühstück im Kloster verwöhnt.

Das Kloster St. Marienstern war auch die Brücke für die Protestantin Esther Zeiher, um ihr Projekt den katholischen Sorben näher zu bringen. „Es hat sich für mich entlang dem Weg eine Perlenkette von Wegbereitern ergeben. Zum Beispiel das Kloster Marienstern“, erzählt sie. Außerhalb des berühmten Camino nach Santiago gibt es nirgends in Europa diese Dichte an Herbergen. Durchweg einfache Unterkünfte, meistens Matratzenlager. Abgegolten wird die Übernachtung durch eine kleine Spende. Die Erstausschilderung des Weges hat Esther Zeiher mit einigen Helfern vor Ort gemacht. „Es gibt Leute, die jährlich einmal ihr Stück des Weges abfahren. Es gibt einen Verein, der besteht aus zehn Leuten, die sind für eine Region zuständig. Sie koordinieren und treffen Entscheidungen. Sie haben die Herbergseltern und Wegbetreuer im Blick“, stellt Ester Zeiher das Konzept vor.

Nach einer Woche gemächlichen Wanderns ist Großenhain ein größeres Etappenziel. Von hier aus entwickelte Esther Zeiher ihre Idee. Das betagte Ehepaar Zenker hält dort die Stellung und betreut Pilger und Herberge. Der Herbergsvater begleitet uns auch zur „kleinen Schwester“ der Dresdner Frauenkirche, der örtlichen Marienkirche. Innen ein traumhaft schönes Bauwerk, das der viel bewunderten und besuchten großen Schwester in nichts nachsteht. Für Konzerte soll es perfekt sein. Und während wir noch die geschwungenen, opernhausgleichen Balustraden bestaunen, feuert Elsbeth Zenker im Pilgerhaus den Kachelofen an. „Wissen Sie“, sagt sie strahlend, „wir selbst reisen nicht, deshalb sind wir richtig glücklich über die Pilger.“

Ökumenischer Pilgerweg e. V.: Goetheplatz 9 B, 99423 Weimar, Tel. (0 36 43) 50 28 97. Dort bekommt man auch den Pilgerführer www.oekumenischer-pilgerweg.de www.via-regia.org