Die Versprechungen von 2005

Data: „Die G 8 müssen 4 Milliarden Dollar Entwicklungshilfe mehr für Afrika 2006 anbieten“

VON DOMINIC JOHNSON

Der Sieger heißt Sambia. Eine Reihe von Schuldenerlassen hat seit dem G-8-Gipfel von Gleneagles im Juli 2005 Sambias sieben Milliarden Dollar Auslandsschulden um 3,9 Milliarden Dollar reduziert. So loben der Internationale Währungsfonds und das Hilfswerk Oxfam in seltener Eintracht. Dazu seien weitere Verringerungen in Aussicht, die die Schuldenlast auf 0,5 Milliarden Dollar drücken könnten. Das britische Entwicklungsministerium freut sich: „Sambia wird seine Einsparungen im Schuldendienst dazu benutzen, kostenlose Gesundheitsversorgung in ländlichen Gebieten einzuführen.“ Und Bob Geldof, Popstar und Initiator der Kampagne „Live8“, resümiert: „Live8 hat 290 Millionen Afrikaner aus der Schuldensklaverei befreit“.

2005 beschlossen die sieben wichtigsten Industrienationen plus Russland (G8) auf ihrem jährlichen Gipfel im schottischen Gleneagles ein beispielloses Hilfsprogramm für Afrika: Verdoppelung der Entwicklungshilfe um 50 Milliarden Dollar jährlich, die Hälfte davon für Afrika; massiver Schuldenerlass im Rahmen von 50 Milliarden Dollar.

Doch im Sommer 2006 ist Nüchternheit eingekehrt. Auf dem G-8-Gipfel in St. Petersburg vom 15. bis 17. Juli wird Afrika kein Hauptthema sein, und auch die russische G-8-Präsidentschaft 2006–07 wird sich wenig darum kümmern. Mehr als eine Bekräftigung der Zusagen von 2005 ist vom G-8-Gipfel 2006 nicht zu erwarten. Entwicklungspolitiker wissen, dass sie erst ab dem G-8-Gipfel 2007, der in Deutschland stattfinden wird, wieder zum Zuge kommen.

Dem G-8-Gipfel 2005 war die Kampagne „Make Poverty History“ vorausgegangen. Internationale Popstars unter Führung von Bob Geldof erzeugten zusammen mit zwei Milliarden Menschen weltweit, die am 2. Juli die Live8-Konzerte in allen am Gipfel teilnehmenden Ländern besuchten, einen globalen moralischen Druck. Die Kampagne wirkte als Verstärker für entsprechende Appelle der britischen Regierung von Premierminister Tony Blair, der in einer hochkarätig besetzten „Kommission für Afrika“ grundlegende Reformprogramme für die afrikanische Politik sowie den internationalen Umgang mit Afrika vorgelegt hatte. Das geschah im Zusammenhang mit einer Reihe praktischer Vorschläge von UN-Experten um den Ökonom Jeffrey Sachs, der Projekte für massive Investitionen in Afrika entwickelt hatte, um die von der UNO 2000 zum Ziel gesetzte Halbierung der weltweiten Armut bis 2015 auch in Afrika Realität werden zu lassen.

In weiser Voraussicht der Entwicklung hat Gleneagles-Gastgeber Blair die Fortführung der Afrikakampagnen von 2005 bereits aus dem G-8-Rahmen herausgenommen. Ein „Africa Progress Panel“ unter Vorsitz von UN-Generalsekretär Kofi Annan und finanziert von Bill Gates soll „Fortschritte messen und ermutigen“, sagte Blair in einer Rede am 26. Juni. „Das Panel wird jährlich einen Bericht erstellen, der G 8 und UNO vorgelegt wird“, so der britische Premier.

Eine internationale Monitoring-Kampagne für die G-8-Afrikahilfe, in der weniger bekannte Namen als bewährte Experten und Lobbyisten sitzen, gibt es allerdings. Genannt „Data“ (Debt, Aids, Trade in Africa), legte sie am 29. Juni einen ersten Fortschrittsbericht vor. „Jüngste Zunahmen in effektiver Hilfe funktionieren bereits und retten Leben“, lobte Data. „Doch die G 8 tun noch nicht genug, um auf diesen Erfolgen aufzubauen. Sie hinken ihrer Zusage besserer Handelsbedingungen komplett hinterher, und Zuwächse in Entwicklungshilfe und dem Kampf gegen Aids sind weniger als die Hälfte dessen, was zugesagt war. Zum Glück haben sie ihr Versprechen zum Schuldenerlass erhalten.“

Am problematischsten dabei ist laut Data der Mangel an verlässlichem Datenmaterial – ein Grund, warum eine Bewertung der G-8-Entwicklungshaushalte 2006 jetzt noch gar nicht möglich ist. Jedes Land rechne seine Entwicklungshilfe anders zusammen, und transparente Strukturen gebe es nirgends, beklagen die Data-Überwacher. Sie fordern eine unabhängige Prüfstelle für die G-8-Länder und eine transparentere Entwicklungspolitik, in der auch Afrikaner überwachen und beurteilen können, was die Entwicklungspolitiker der reichen Länder machen.

Andere G-8-Bilanzen, vorgelegt von der britischen Regierung, der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) und von Oxfam, untersuchen daher eher die Entwicklungen von 2005 – die wurden zwar vor dem G-8-Gipfel eingeleitet, entstanden aber bereits unter dem Eindruck der entsprechenden Kampagnen und Vorbereitungen und geben daher Aufschlüsse über die Kluft zwischen Rhetorik und Realität. Beispiel Erhöhung der Entwicklungshilfe: die gesamten entwicklungspolitischen Leistungen (ODA – Overseas Development Assistance) der G-8-Staaten wuchsen zwischen 2004 und 2005 um 21 Milliarden Dollar, von 57,7 auf 78,9 Milliarden, also immerhin ein Anstieg um 37 Prozent. Allein die zwei größten Schuldenerlassprogramme der jüngeren Geschichte, für Irak und Nigeria, machen allerdings 17 dieser 21 Milliarden Dollar aus, kritisiert Oxfam – es gibt also viel weniger neues Geld, als man auf den ersten Blick vermutet. Ohne Schuldenerlasse wuchs die Entwicklungshilfe nicht um 37, sondern nur um 9 Prozent. Die OECD, der Staatenbund der Industrienationen, sieht das sogar noch kritischer: „Hilfe in Form von Schuldenerlassen stieg zwischen 2004 und 2005 um über 400 Prozent an, andere Hilfe um 8,7 Prozent.“ Zur „anderen Hilfe“ zählen auch Tsunami-Hilfsgelder, die die stattliche Höhe von 2,2 Milliarden Dollar erreichten, aber wenig mit klassischer Armutsbekämpfung zu tun haben. Für das Jahr 2006 erwarten OECD und Oxfam einen ähnlichen Trend, denn die Irak- und Nigeria-Erlasse sind über mehrere Jahre gestreckt. Wenn sie dann ab 2007 ausliefen, würde die Entwicklungshilfe nach dem ODA-Maßstab eventuell sogar zurückgehen. Eigentlich, so mahnt das deutsche entwicklungspolitische Forum von Nichtregierungsorganisationen „Venro“, hätten sich die Industrienationen beim UN-Gipfel von Monterrey 2002, als zum ersten Mal über die Finanzierung erhöhter Entwicklungshilfe gesprochen wurde, geeinigt, Schuldenerlasse nicht zur Entwicklungshilfe zu zählen, sondern allein frisches Geld. Gleneagles habe dies wieder umgestoßen, um die Schlagzeile „Verdoppelung der Entwicklungshilfe“ leichter erreichbar aussehen zu lassen. Die Beispiele Nigeria, Irak und auch Argentinien hätten allerdings gezeigt, dass frühere Ängste vor gigantischen Schuldenstreichungen unbegründet seien – das immerhin ein Durchbruch auf dem Weg zur kompletten Entschuldung der ärmsten Länder.

Die paradoxesten Schlagzeileneffekte hat das Anrechnen von Schuldenerlassen auf Entwicklungshilfe in Deutschland. Während das deutsche Entwicklungsministerium BMZ jedes Jahr eine Erhöhung der deutschen Entwicklungshilfe konstatiert, haben OECD und Oxfam ausgerechnet, dass ohne Schuldenerlassgelder die entwicklungspolitischen Leistungen Deutschlands zwischen 2004 und 2005 stark gesunken – um 8 Prozent laut Oxfam, um 9,8 Prozent laut OECD. Von den insgesamt 9,915 Milliarden Dollar deutscher Entwicklungshilfe 2005 entfielen 1,99 Milliarden auf Schuldenerlasse für Irak und 1,142 Milliarden auf Schuldenerlasse für Nigeria.

Wieso die deutsche Entwicklungshilfe ohne Schuldenerlass 2005 zurückging, während der Haushalt des zuständigen Ministeriums BMZ, in dem Schuldenerlasse ebenfalls nicht enthalten sind, stieg – dafür hat ein BMZ-Sprecher auf Anfrage keine Erklärung, und so lässt sich auch die im Bundeshaushalt 2006 vorgelegte erneute Steigerung des BMZ-Etats um 320 Millionen Euro nicht automatisch in höhere Entwicklungshilfe umrechnen.

Die Monitoring-Gruppe Data hat im vorgelegten „Data Report 2006“ Deutschland dringend zu größeren Anstrengungen aufgefordert. „Um seine Verpflichtungen einzuhalten, muss Deutschland seine ODA für Afrika 2006 um mindestens 660 Millionen Dollar erhöhen“, so der Bericht. Die bisherigen Planungen für eine BMZ-Haushaltssteigerung um durchschnittlich 4 Prozent jährlich bis 2009 seien „nicht genug“. Im Bereich Aidsbekämpfung sei Deutschland „der knausrigste der G-8-Geber im Vergleich zum Nationaleinkommen und in der absoluten Höhe“, in der Schulbildung ebenfalls; bei Wasserversorgung hingegen sei Deutschland der größte Geber.

Eigentlich hat Deutschland festgelegt, seine Entwicklungshilfe von derzeit 0,35 Prozent des Bruttonationaleinkommens bis 2015 stufenweise auf 0,7 Prozent zu steigern – das international anerkannte Ziel, das bislang von keiner der großen Industrienationen erfüllt wird. Die Möglichkeit, mit hohen Schuldenerlassen eine höhere Entwicklungshilfe zu generieren, „wird in zukünftigen Jahren nur noch eingeschränkt zur Verfügung stehen“, warnte allerdings die SPD-Abgeordnete Iris Hoffmann in der Debatte zum BMZ-Haushalt am 21. Juni. „Bis 2010 fehlen nach heutigem Stand etwa 7 Milliarden Euro, um das zugesagte ODA-Zwischenziel von 0,51 Prozent des Bruttonationaleinkommens zu erreichen.“ Ihre Parteikollegin und Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul entgegnete lediglich: „Ich verspreche Ihnen, dass wir es schaffen werden.“ Gemeint ist damit, dass Deutschland sich gemeinsam mit Frankreich um neue, innovative Finanzierungsansätze für Entwicklungshilfe bemüht – aber ausgerechnet die Flugticket-Steuer in Höhe von einem bis zu 40 Euro, die Frankreich zum 1. Juli eingeführt hat und die Deutschland einst befürwortete, ist wieder vom Tisch: Eine von den Grünen beantragte Debatte wurde am 28. Juni mit den Stimmen von Union und SPD von der Tagesordnung des Bundestags genommen.

So ist die Zukunft der deutschen Entwicklungshilfe weiter offen, und die Fragen werden noch schneller wachsen als der Entwicklungshilfeetat. Wieczorek-Zeul kündigte in der Haushaltsdebatte grundlegende BMZ-Reformdiskussionen für den kommenden Herbst an. Dass die Entwicklungshilfe nicht nur erhöht, sondern auch reformiert werden muss, ist unter allen Experten Konsens. „Gegenwärtig werden 40 Prozent der G-8-Hilfen für teure technische Unterstützung verschwendet und sind an die Pflicht zum Einkauf von Dienstleistungen aus dem Geberland gebunden“, kritisiert Oxfam. In einer im April vorgelegten Evaluierung der Entwicklungshilfe durch die zuständige OECD-Stelle wird Deutschland unter anderem aufgefordert, klarere und zugleich besser operationalisierbare Zielsetzungen und die Umsetzung entwicklungspolitischer Maßnahmen durch BMZ-Repräsentanten vor Ort zu koordinieren.

In Deutschland selbst wird darüber nachgedacht, ob Entwicklungspolitik sich eher auf erfolgreiche oder auf erfolglose Länder konzentrieren soll, also auf Schwellenländer auf dem Sprung in die Industrialisierung oder auf zerfallene Staaten mit hohem Krisenpotenzial. Jahrzehntelang gehörten die größten Empfänger deutscher Entwicklungshilfe zur ersten Gruppe: Ägypten, China, Indien, Indonesien, zeitweise sogar Jugoslawien. Heute ist Afrika erklärter Schwerpunkt des BMZ, die Finanzströme haben sich verändert – aber das politische Umdenken hinkt hinterher. Das zeigt die Konzentration der Afrikahilfe auf „Schwerpunktländer“ in Afrika, deren Anzahl überdies dieses Jahr weiter reduziert werden soll und bei deren Auswahl Reformer immer den Vorzug erhalten gegenüber Krisenstaaten. Konzepte dafür, wie man in Ländern ohne funktionierende Verwaltungsapparate arbeitet, sind Mangelware. All diese Grundsatzdiskussionen jedoch können nicht davon ablenken, dass es zunächst darum gehen muss, die großen Versprechungen des Jahres 2005 nicht komplett zu enttäuschen.