: Danebengreifen, immer wieder
LITERATUR Ohne Funktion, aber mit Jaguar leben: Das legendäre „Berliner Journal“ von Max Frisch konnte endlich erscheinen
MAX FRISCH ANLÄSSLICH EINER LESUNG IN OSTBERLIN
VON DETLEF KUHLBRODT
Als Max Frisch im Februar 1973 mit seiner 30 Jahre jüngeren Frau Marianne in Berlin-Friedenau seine ein paar Monate zuvor gekaufte Wohnung bezieht, ist er längst einer der berühmtesten deutschsprachigen Schriftsteller. Seine bekanntesten Romane – „Stiller“ (1954), „Homo faber“ (1957), „Mein Name sei Gantenbein“ (1964) – sind längst erschienen, Theaterstücke wie „Graf Öderland“ (1951), „Biedermann und die Brandstifter“ (1958) und „Andorra“ (1961) werden im Deutschunterricht behandelt. Zwei Tagebücher (1946–49; 1966–71) runden das Oeuvre ab. Er ist 61, besitzt einen Jaguar (den er später Volker Schlöndorff nach dessen „Homo Faber“-Verfilmung schenken wird), eine Wohnung bei Zürich und ein angenehmes Haus im Tessin.
Nach Berlin zieht der 61-Jährige, weil in Zürich alles nur noch Erinnerung zu sein scheint und er dort das Gefühl hat, keine „Funktion“ mehr zu haben.
„Ausschlaggebend für den Umzug war wohl vor allem die Wohnung in der Sarrazinstraße, auf die seine Ehefrau Marianne durch glücklichen Zufall gestoßen war“, heißt es im Nachwort des Buches „Aus dem Berliner Journal“, dass heute bei Suhrkamp erscheint.
In der Gegend wohnten damals viele Schriftstellerkollegen, in deren Nähe zu leben ihm wichtig war. Zum Beispiel Günter Grass und Uwe Johnson, mit denen Frisch mehr oder weniger befreundet war.
Frisch hatte sich mehrfach zu seinem „Berliner Journal“ geäußert und suggeriert, dass es sich bei dem zwischen 1973 und 1980 entstandenen Konvolut aus fünf Ringbüchern um ein druckreifes Manuskript handele.
In der Zeit, als er es abschließt, hatte er ein Max-Frisch-Archiv und eine Stiftung gegründet, um seinen Nachlass zu ordnen. Das Journal hatte er Uwe Johnson zur Aufbewahrung überlassen, „unter der Bedingung, dass Sie dieses Journal niemanden zeigen und […] mit niemandem darüber sprechen“. Es war mit einer 20-jährigen Sperrfrist belegt, die im April 2011 auslief.
Aus welchem Grund es diese lange Sperrfrist gab, ist bei der Lektüre der jetzt erschienen Teile, die zwischen 1973 und 1974 spielen, nicht recht ersichtlich. Vermutlich sorgte er sich wegen der Passagen der Hefte 3 bis 5 (1974 – 1980), die „fast ausschließlich um Frischs Privatleben kreisen“, wie es im Nachwort heißt. Dass die Herausgeber auch aus „persönlichkeitsrechtlichen Gründen“ darauf verzichteten, diese Passagen zu veröffentlichen (sie seien „deutlich weniger sorgfältig und gegen Ende hin skizzenhaft verfasst“), ist schade, widerspricht dem Tagebuchgenre, das man ja gerade schätzt, weil es in diesem seltsamen Niemandsland zwischen Privat und Öffentlich spielt, widerspricht wohl auch den Intentionen von Frisch zumindest zwischen 1973 und 1974 – hatte er an Brechts „Arbeitsjournal“, das 1973 herauskam, doch kritisiert, dass das Private darin weitgehend ausgespart ist.
Wie auch immer. Frischs Aufzeichnungen zwischen 1973 und 1974 kreisen um vier Themen. Schreiben und Alltag in der neuen Umgebung, fiktionale Skizzen, manchmal kaum zwei Sätze lang, manchmal parabelhaft wie der Text über den unschuldig Angeklagten, der so entsetzt ist über die wohlmeinenden, entlastenden Zeugenaussagen seines Umfelds, über das Bild, das diese Aussagen von ihm entwerfen, dass er sich das Leben nehmen will; Schriftstellerporträts – unter anderem Alfred Andersch, Jurek Becker, Wolf Biermann, Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Uwe Johnson; und die DDR, vor allem Ostberlin, das ihn sehr viel mehr interessiert als der Westteil der Stadt, über den er kaum mehr stolz bemerkt, als dass er von Arbeitern und Handwerkern, deren Beruf er extra vermerkt, erkannt und geschätzt wird und dass es in Berlin keine Zeitung „von Rang“ gebe.
In dieser Zeit kämpft Frisch mit den Dämonen des Alkohols, er fühlt sich unproduktiv, „ohne Arbeitsplan“, er macht sich Gedanken über eine Werkausgabe, ist besorgt über das schlechter werdende Gedächtnis, spielt mit dem Gedanken, seine Memoiren zu schreiben. „Jetzt Memoiren schreiben (nicht zur Veröffentlichung) wäre das Abenteuer, das noch möglich ist; es würde mich packen und umdrehen, glaube ich. Ich hätte ein Leben hinter mir, eines, das mich noch einmal interessiert, weil ich es nicht kenne.“ Die Vorstellung also, dass man seine Vergangenheit nicht hat, sondern sie sich erst erschreiben muss.
Die heitere Kälte Berlins
Das Journal spielt in einer Zeit, als Schriftsteller, gerade Großschriftsteller, zu denen Frisch natürlich gehörte, gerade im geteilten Deutschland, gerade in Berlin, eine übertrieben wichtige politische Rolle spielten. Grass engagiert sich für die SPD; Frisch ist irritiert vom Wunsch seines Freundes, in der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden.
Als Schweizer, bei Besuchen in Ostberlin, bei seinen Treffen mit geförderten und verfemten (Biermann) Schriftstellern der DDR, ist er in einer anderen Position als seine westdeutschen Kollegen. Fühlt sich allerdings auch geschmeichelt, davon, dass Texte in der provinziellen DDR so wichtig genommen werden. „Ich bin in der Tat sehr gespannt, fast erregt, bei der Vorstellung, dass Texte ernst genommen werden“, notiert er anlässlich einer Lesung vor geladenen Gästen im Ostteil der Stadt.
Die Notizen über die Kultureliten Ostberlins der 70er Jahre sind klug und interessant. Am besten gefallen mir an dem Journal jedoch eher alltägliche Beobachtungen; eine längere Besuchsszene mit Kindern oder ganz kurze Sachen; wenn er die „heitere Kälte Berlins“ beschreibt oder notiert: „Wenn man nicht genug weiß, was einen beschäftigt. Für Augenblicke scheint es fast greifbar. Wenn man nicht danebengreifen würde immer wieder.“
■ Max Frisch: „Aus dem Berliner Journal“. Suhrkamp, Berlin 2013. 235 Seiten, 20 Euro