: Der Junge, der zum Krieger werden musste
SPANNUNG Thriller, in denen Kinder zu Schaden kommen, sind oft heikel. Dieser ist gut: „Das letzte Kind“ von John Hart
Gleich zu Beginn wird deutlich, dass in diesem Thriller manches anders ist. In der ersten Szene, die funktional eine Art Prolog darstellt, lernen wir einen Jungen kennen, der unter Lebensgefahr ein Adlernest ausraubt. Es ist eine Szene voller Dramatik und Blut. Sie bereitet uns auf das Kommende, Eigentliche vor, das sich hier symbolisch angedeutet findet, und sie macht vor allem eines deutlich: Dieses Kind, dieser, wie betont wird, vom Körperbau zarte, noch kindliche Dreizehnjährige, ist kein wehrloses Opfer. Physisch mag der junge Johnny jedem Erwachsenen unterlegen sein, der ihm böse will, doch mental ist er ein Krieger.
Johnny Merrimon, das schafft John Hart, ist von der ersten Seite an unser Held. Wir glauben an ihn. Nur so lässt sich diese Geschichte überhaupt aushalten, die von der besessenen Suche des Jungen Johnny nach seiner verschwundenen Schwester handelt und von bösen Menschen, die Kindern das Schrecklichste antun, das man sich vorstellen kann.
Mit Gewalt gegen Kinder im Unterhaltungsroman ist es ja ohnehin so eine Sache. Allzu leicht wird das besondere Schreckenspotenzial eines solchen Szenarios ungut ausgebeutet. Empfindlichere Naturen – oder Eltern – lesen Bücher, in denen Kinder zu Schaden kommen, ohnehin nicht. Wenn sich bei John Hart der Impuls, das Buch zur Seite zu legen, dann doch bekämpfen lässt, so deshalb, weil es eben anders ist. Besser geschrieben, zum einen (im Original sicher noch besser). Und weil es die übliche Opfer-Täter-Polizei-Story in verschiedene Richtungen erweitert.
Eigentlich erzählt es mehrere Geschichten auf einmal. Eine davon ist die des Jungen, der zum Krieger werden musste, weil Schwester und Vater verschwunden sind, und die seiner Mutter, der schönsten Frau der Gegend, die durch den Verlust zu einem tablettensüchtigen Wrack wurde, abhängig nun vom reichsten Mann der Gegend, der sie sexuell ausbeutet und den Jungen schlägt, wenn er seine Mutter beschützen will. Dann gibt es die ziemlich standardisierte Cop-Geschichte des rechtschaffenen Polizisten Hunt (nomen est omen), der sich in den Fall verbissen hat, ihn gegen den Widerstand aus den eigenen Reihen lösen will und in Johnnys Mutter verliebt ist. Und unter all diesem Genrestoff erzählt Hart noch eine amerikanische Legende, von Johnnys Ururgroßvater nämlich, der einst seinem schwarzen Sklaven das Leben rettete und ihn freiließ, und die Geschichte dieses Sklaven und seiner Nachkommen.
Die Gestalt des Levi Freemantle, eines geistig zurückgebliebenen schwarzen Mannes, der auftaucht, um Johnny zunächst zu erschrecken, schließlich aber zu retten, nimmt dabei geradezu mythische Züge an. Fast ist das alles ein bisschen viel. Doch auch wenn man einerseits den Autor stirnrunzelnd zur Rede stellen möchte, ob er sich denn nicht hätte entscheiden können, welche dieser Geschichten er eigentlich erzählen wollte, so muss man andererseits zugeben: Beim Lesen gestört hat diese Vielgleisigkeit eigentlich nicht.
Ist spannend gewesen.
KATHARINA GRANZIN
■ John Hart: „Das letzte Kind“. Aus dem Englischen von Rainer Schmidt. C. Bertelsmann, München 2010. 448 Seiten, 19,95 Euro