: Italienische Geheimnisse
SUPERBULLEN Die besten hard-boiled Detektivromane schreiben gerade die Italiener. Aber warum? Das lässt sich anhand von Giancarlo De Cataldos Buch „Romanzo Criminale“ am besten erzählen
VON AMBROS WAIBEL
Wir leben in fröhlichen Tagen. Diskussionen über den Kommunismus etwa taugen nur noch zum Distinktionsgewinn der Happy Few in der Berliner Volksbühne – offenbar hat man gerade keine Lust, darüber nachzudenken, dass die Bekämpfung dieser Ideologie einst die Welt im Griff hatte. Von Kuba bis China, von Angola bis zum Nordkap tobte dieser Krieg, er forderte auf beiden Seiten Millionen von Opfern, und er begann nicht erst 1945 und auch nicht 1917.
Schon lange vor dem Ersten Weltkrieg war klar, dass es mit der „Dienstbotenfrage“ (Thomas Mann) so nicht mehr weitergehen konnte. In Italien, wo die von ihren Funktionäre selten gut beratenen Arbeiter in der von archaischen Besitzverhältnissen geprägten Landwirtschaft nicht um höhere Löhne, sondern ums Brot für ihre Kinder kämpften, wussten sich Gutsbesitzer und Regierung nur durch regelmäßige Armee- und Polizeimassaker an den Ärmsten der Armen zu helfen – wie man in der eben erschienenen „Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert“ von Hans Woller eindrucksvoll nachlesen kann. So war sie, die letzte gute alte Zeit des Bürgertums, und wir alle dürfen froh sein, sie nicht erlebt zu haben.
In dieser ideologischen Plattentektonik verlief durch Italien in schöner Entsprechung zu den geologischen Gegebenheiten immer eine Hauptnahtstelle; und so passt es auch, dass nun, wo vergangene Heldentaten zu erzählen sind, einige der besten Autoren historischer Politthriller von jenseits der Alpen kommen – von Berlusconi müssen wir da noch gar nicht sprechen. Und es passt, dass der 1956 in Tarent geborene, seit 1973 in Rom ansässige Giancarlo De Cataldo, von dem hier die Rede sein soll, im Zivilberuf Richter ist. Denn so konnte er eine fakten- und aktengesättigte Kriminellengeschichte erzählen, die untrennbar mit dem Feldzug gegen den Kommunismus verbunden ist.
Wie De Cataldo das macht, ist dabei keineswegs neu. Sein Vorbild ist ganz klar James Ellroy: Superbullen, Superkriminelle, Superprostituierte; mit expressionistischer Action-Lyrik versetzter Hyperrealismus; Genauigkeit im historischen Detail mit der Freiheit der Fiktion verschnitten. Alles stimmt, aber es ist nicht unbedingt wahr – denn es geht ja um Dinge, die nicht aufgeklärt sind, die sogenannten misteri italiani, die italienischen Geheimnisse: Mord an Aldo Moro, Massaker in Bologna, die Nato- Stay-behind-Truppe Gladio, Mafia, Freimaurer. Das liest sich im Fall des Superbullen dann etwa so: „Der junge Mann wurde allmählich erwachsen, verlor die Unschuld. Er war auf dem besten Weg, ein Arschloch zu werden.“
Bei Ellroy heißen die immer wiederkehrenden Themen, an denen sich die Beteiligten die Zähne ausbeißen, Kennedy-Mord, Kuba, Mob und Politik, FBI. Und so ist der Titel auch keineswegs zu groß gewählt: „Romanzo Criminale“, 2002 im Original erschienen, ist tatsächlich ein – in Italien schon zweimal verfilmter – großer Roman über das Verbrechen in den Zeiten des Kalten Krieges geworden; und es ist das Verdienst der Übersetzerin Karin Fleischanderl, den Sog und die Wucht des knapp 600 Seiten starken Buches ohne allzu große Verluste für ein deutschsprachiges Publikum aufbereitet zu haben: der richtige Wälzer für drei Wochen Strandurlaub.
De Cataldo erzählt immer nah an den realen Begebenheiten von Gründung, Aufstieg und Verfall der „Banda della Magliana“, einer Bande römischer Vorstadt-Straßenjungs, die sich im Lauf der 1970er und 1980er Jahre zur mächtigsten kriminellen Organisation entwickelt, die Roms sieben Hügel bis dahin gesehen haben. Drei charismatische Führer, Libano, Freddo und Dandi, sind es, die durch Drogen- und Waffenhandel, Glücksspiel und Erpressung das bis dahin provinziell in einzelne Viertel aufgeteilte Verbrechen der Kapitale zentralisieren – modernisieren, wenn man so will.
Auf dieser Ebene erzählt das Buch vom ewig-öden Rock-’n’-Roll-Leben von Kriminellen zwischen Rolex und Rache, Honda und Hodenabschneiden. Man liest das süchtig, ohne immer orientiert zu sein, wer nun gerade wen warum in Salzsäure auflöst – aber das funktionierte schon bei Chandler und Hammett so.
Gegenspieler der drei Chefs mit den sprechenden Namen (ein Faschist, der gern kifft; einer, dem an billigen Vergnügungen nichts liegt; und einer, der die schönen Dinge liebt) sind der Familienmensch und Richter Bortgia („Er hatte nächtelang gearbeitet, er hatte mit seiner Frau eine äußerst gefährliche Gratwanderung unternommen: ein Schritt zur Seite, und sie hätte ihn verlassen“) und der zunächst gerechtigkeits-, später karriereaffine, aber immer schwanzgesteuerte Polizist Nicola Scialoja: „Romanzo Criminale“ ist bei allen Anleihen von jenseits des Atlantik ein durch und durch italienisches Produkt.
Die beiden Vertreter des Staates erkennen rasch, dass es sich bei der „banda“ eben um eine solche handelt – einen veritablen, hierarchisch organisierten Gegner der bürgerlichen Gesellschaft; doch sie müssen feststellen, dass diese simple Entgegensetzung von Gut und Böse der Realität nicht entspricht. Denn zum einen ist der Staat, der ja aus seinen Vertretern besteht, durch und durch korrupt. Eklatantes und ganz den Fakten entsprechendes Zeichen dessen ist die Tatsache, dass die Bande ihr zentrales Waffendepot im Keller des Gesundheitsministeriums anlegen kann – der Pförtner ist ein alter Kokser; zum anderen gibt es innerhalb des Staates den Antistaat, personifiziert von „Il Vecchio“, dem Alten.
Während Verbrecher und Polizei von der Verteidigung der Ordnung oder der Errichtung einer neuen träumen, ist dieser „Il Vecchio“ ein Spieler, der die Ordnung immer wieder ins Chaos zurückwerfen will, weil allein dieses Chaos ihm seine Position als Puppenspieler, der alle Fäden in der Hand hält, garantiert: „Eine anarchische Form der Kontrolle.“ Scialoja ist hartnäckig genug, um den Mann ohne Namen, ohne Dienstgrad und ohne Büroanschrift kennenzulernen, und stellt „die einzige Frage, die einen Sinn machte: Wer sind Sie wirklich?“
Nun, „Il Vecchio“ ist der Beweis dafür, dass es keine Kriminalität großen Stils ohne Protektion durch staatliche Stellen geben kann; er ist derjenige, der Aldo Moro opfert, weil er für den Kompromiss zwischen christdemokratischer Regierung und Kommunistischer Partei steht; er ist es, der die Schwäche der Linken vor allem darin sieht, „keine Eier“ zu haben, und nur Stalin als Gegner gelten lässt: Er ist, kurz gesagt, Teil der „exklusivsten, kosmischen Elite des 20. Jahrhunderts“. Heute wäre „Il Vecchio“ wohl Banker.
Mehr als zwanzig Jahre ist es in dem Roman nun her, dass seine Epoche zu Ende ging. Immer neue Details tauchen auf, aus Archiven und von Sterbebetten. Wie war das mit den Verhandlungen zwischen Staat und Mafia? Es gab sie, bestätigt ein ehemaliger Minister. Wer schoss das Passagierflugzeug über Ustica ab und warum? Staatspräsident Napolitano lässt den Fall neu aufrollen.
Und De Cataldo hat schon längst eine Fortsetzung geschrieben, in der Scialoja zum Erben des Alten geworden ist. „Nelle mani giuste“ heißt das 2007 im Original erschienene Buch und handelt davon, warum Italien nach dem Zusammenbruch des antikommunistischen Konsenssystems dann doch wieder „in die richtigen Hände“ kam. Das lesen wir nächsten Sommer, wenn der kleine Folio Verlag genug Mut und Geld hat, auch dieses Buch zu übersetzen. Zu wünschen wäre es unbedingt.
■ Giancarlo De Cataldo: „Romanzo Criminale“. Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl. Folio Verlag, Wien 2010, 575 Seiten, 24,90 Euro
■ Hans Woller: „Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert. C. H. Beck Verlag, München 2010, 480 Seiten, 39,95 Euro