: Das Nachtmahl
ABENDBROT Mit der Hitze geht der Hunger flöten. So essen die Deutschen derzeit im Schutz der Nacht – und kommen sich so näher. Eine Rundreise durch neue kulinarische Gepflogenheiten
■ Frühstück: Wenn Menschen fremde Sitten übernehmen, nennen Ethnologen das „Transkulturalisierung“. Allerdings werden dabei meist nur positive Aspekte übernommen, die negativen ignoriert. So kämen Deutsche nicht auf die Idee, ihren Kindern ein italienisches Frühstück mit gesüßtem Kakao und Keksen vorzusetzen.
VON ANNA WIEDER
Die Hitze hat Deutschland ergriffen. Bei Temperaturen jenseits der 35 Grad bleibt tagsüber nur die Flucht ins Freibad oder an den See. Erst zu später Stunde, wenn die beißenden Sonnenstrahlen hinter dem Horizont verschwunden sind, wagen sich die Menschen aus der Geborgenheit klimatisierter Räume – dann endlich regt sich wieder Leben auf den Straßen. Denn mit den sinkenden Temperaturen wächst ein Gefühl, das bei der Hitze fast vergessen wurde: Hunger.
Wer also dieser Tage abends gegen zehn Uhr durch die Stadt spaziert, dem zeigt sich ein ungewöhnliches Bild. Während Nachtaktive um diese Uhrzeit sonst bei „Tatort“ oder „CSI“ vor dem Fernseher herumlungern, sitzen sie nun in Kneipen vor vollen Tellern.
Zum Beispiel in Berlin-Kreuzberg. Im Las Primas, dem spanischen Restaurant von Carmen Juan, ist einiges los. Flinke Kellnerinnen huschen die kleinen, grün gestrichenen Holztische entlang, an denen es sich Hungrige gemütlich gemacht haben. „Die Gäste kommen bei dem Wetter gut vier Stunden später als sonst“, erzählt die 43-jährige Spanierin. Mittlerweile ist es 23 Uhr. Am Nachbartisch sitzt eine Gruppe Italiener Anfang dreißig. Heißhungrig stürzen sie sich auf die gerade servierte Tapas-Platte und schaufeln gefüllte Paprika, Oliven und den gemeinhin als „Jamón“ bekannten iberischen Schinken auf ihre Teller. Einen Tisch weiter knabbern deutsche Besucher an Maischips mit Guacamole.
Essen, ohne zu schwitzen
Den Münchner Ernährungsmediziner Volker Schusdziarra wundert es nicht, dass kleine, kühle Speisen wie Tapas bei den herrschenden Temperaturen so beliebt sind: „Bei der Verdauung wird Wärme erzeugt. Daher meiden wir bei heißem Wetter schwere Gerichte.“ Eine allgemeingültige Erklärung für den geringen Tagesappetit gebe es jedoch nicht. Allerdings werde das Hungergefühl oft vom Durst überdeckt und der Magen so mit Getränken gefüllt.
„In Spanien gibt es zwei große Mahlzeiten am Tag“, erzählt Wirtin Carmen Juan. „Eine zwischen halb zwei und drei. Und die nächste erst spät am Abend.“ Die mittägliche Siesta dazwischen ist fester und wichtiger Bestandteil des Tagesrhythmus, wie Bernhard Tschofen, Professor für Volkskunde an der Universität Tübingen, erklärt. Spätes Essen sei ohne Siesta kaum denkbar. Nicht zuletzt wegen der anderen Arbeitszeiten ist es im Süden Europas völlig normal, erst um elf Uhr abends zu kochen.
Ein Sitte, die Urlauber gern mit nach Hause nehmen. Die vom protestantischen Arbeitsethos geprägte deutsche Ernährung werde so zunehmend verdrängt. „Essen dient nicht mehr nur dem Kräftesammeln, sondern auch dem Genuss“, meint Tschofen. Das abendliche Glas Wein sei kein Frevel, sondern fördere die kulinarische Bildung. Da darf es schon mal bis in die Nacht dauern.
Dabei warnen Diätratgeber stets vor Mahlzeiten zu später Stunde. „Ab 17 Uhr nichts mehr essen!“, lautet die vermeintliche Erfolgsformel für eine schlanke Linie. „Dafür gibt es keinen Beleg“, sagt Schusdziarra. „Es kommt darauf an, was man den restlichen Tag über gegessen hat. Und dabei gilt: Je weniger Mahlzeiten, desto weniger Kalorien.“
So schade das Nachtmahl weder mediterranen Völkern noch Nordländern. „Jeder Mensch hat seinen eigenen Rhythmus“, betont der Ernährungsmediziner. „In Mittelmeerländern wird die Uhr einfach zurückgestellt.“
Nächtliches Sozialleben
CARMEN JUAN, WIRTIN IN KREUZBERG
Noch weiter südlich wird gelegentlich ganz aufs Essen am Tage verzichtet. Im islamischen Fastenmonat Ramadan, der dieses Jahr vom 11. August bis 9. September stattfindet, ist die Nahrungsaufnahme nach Sonnenaufgang und vor Sonnenuntergang untersagt. Zwar sind die Gründe dafür eindeutig religiöse, doch sakrale Riten haben oft umweltbedingte Hintergründe, vermutet Bernhard Tschofen. So lässt die deutsche Übersetzung von „Ramadan“, das so viel bedeutet wie „starke Hitze“, auf ein wärmebedingtes Nebenmotiv für den Nahrungsverzicht schließen.
Zugleich verweisen sowohl Mediziner als auch Kulturwissenschaftler auf die soziale Komponente des gemeinsamen Essens. „Mahlzeitenordnungen bilden nicht nur den klimatisch bedingten Tagesrhythmus, sondern auch gesellschaftliche Ordnungen ab“, sagt Tschofen. Mit der gelebten nächtlichen Gastlichkeit sollen soziale Beziehungen gestärkt und soll der eigene Status zur Schau gestellt werden – denn wer spät isst, kann es sich auch leisten und muss nicht schon morgens früh arbeiten.
Dazu gehört eigentlich, sich gegenseitig einzuladen. Doch wenn Deutsche mediterrane Tischsitten übernehmen, vergessen sie das oft. So entstehen typische kulturelle Missverständnisse, wie jenes, dass Touristen sogar im Süden getrennt bezahlen möchten.
Bei Carmen Juan bekommt jeder Tisch eine gemeinsame Rechnung. Mittlerweile ist es fast halb zwölf, die italienischen Tischnachbarn verspeisen Kartoffelecken und gegrillte Zucchini, lachen und plaudern. Vor dem Fernseher zu sitzen würde wohl keinem in den Sinn kommen. Gesellige Abende sind hier bevorzugt.