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Archiv-Artikel

Dunkle Wolken über Warschau

Der Konservatismus der Kaczyński-Brüder stößt im Westen auf Kritik. Übersehen wird: Diese Regierung steht für einen Bruch mit der Vergangenheit, den viele Polen wünschen

16 Jahre nach Ende der kommunistischen Diktatur steht Polen noch immer am Anfang der AufarbeitungFür ihre Versäumnisse bezahlt die polnische Linke mit dem Abstieg in die politische Bedeutungslosigkeit

Seit der Parlamentswahl in Polen im September 2005 liest man in den deutschen Medien Kommentare über das Nachbarland, die Angst machen. Den polnischen Präsidenten Lech Kaczyński und seinen Zwillingsbruder Jarosław, der jetzt Ministerpräsident werden soll, stellen deutsche Medien vorzugsweise als antisemitische, homophobe Populisten und Verfechter der Todesstrafe dar. Dabei steht ihre Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) vor allem für zwei zentrale Vorhaben: die Stärkung des (Rechts-)Staates und die Abrechnung mit der kommunistischen Vergangenheit. Beide Themen haben den polnischen Wahlkampf dominiert und prägen auch weiterhin die öffentliche Debatte. Im Mittelpunkt der deutschen Berichterstattung hingegen standen vor allem die antideutsche Rhetorik und der polnische Ultrakatholizismus. So droht in Deutschland ein verzerrtes Bild des gegenwärtigen Polens zu entstehen.

Selbst 16 Jahre nach dem Systemwechsel befindet sich Polen noch am Anfang der Aufarbeitung seiner kommunistischen Vergangenheit. Während der Deutsche Bundestag unmittelbar nach der Wiedervereinigung 1991 das „Stasi-Unterlagen-Gesetz“ verabschiedete und damit die Gauck- beziehungsweise Birthler-Behörde schuf, musste Polen auf einen entsprechenden politischen Akt lange warten. Erst im Jahr 1997 verabschiedete der polnische Sejm das so genannte Lustrationsgesetz und gründete ein Jahr später, nach deutschem Vorbild, das Institut für nationale Erinnerung (IPN).

Der Widerstand dagegen war groß, dabei ist das polnische Gesetz vergleichsweise harmlos: Routineüberprüfungen im öffentlichen Dienst sind ebenso wenig vorgesehen wie Arbeitsverbote oder andere Sanktionen für offizielle und inoffizielle Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes. Das polnische Prinzip der Vergangenheitsbewältigung: Bestraft werden nur Personen in politischen Spitzenämtern, die eine Tätigkeit bei der polnischen Stasi verheimlicht haben. Kein Wunder, dass vielen dies nicht reicht. Im Jahr 2005 gelangte der Journalist Bronislaw Wildstein, ein ehemaliger Oppositioneller, an eine Liste mit rund 240.000 Namen aus den Archiven des IPN und veröffentlichte diese im Internet. Die Liste enthält unter anderem Namen von offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern der polnischen Stasi. Obwohl die Zahl der Anfragen beim IPN danach rapide anstieg, kritisierten viele den Vorgang als „wilde Lustration“.

Schon in diesem Sommer plant die PiS eine Novelle des Lustrationsgesetzes und damit die Einlösung eines zentralen Wahlversprechens. Der zu überprüfende Personenkreis soll von derzeit rund 27.000 auf 120.000 erweitert werden. Darunter werden alle Staatsbediensteten fallen, inklusive die Mitarbeiter sämtlicher Botschaften und Konsulate, der staatlichen Unternehmen, der Versicherungsanstalten und öffentlichen Medienanstalten. Wer Stasi-Mitarbeiter war, dessen Name soll veröffentlicht werden. Zudem sind Sanktionsmöglichkeiten geplant, etwa ein zehnjähriges Verbot der Arbeit im öffentlichen Dienst.

Mit dem Gesetzesvorhaben geht es der PiS einerseits um Aufklärung, andererseits soll der Staat „entkommunisiert“ werden. Noch heute sitzen an vielen entscheidenden Stellen Personen mit kommunistischer Vergangenheit – ob im Justizwesen, im Geheimdienst, bei der Polizei, in der Armee oder in der Verwaltung. Auch die Universitäten und Schulen wurden nie entideologisiert und auf Verstrickungen mit dem alten System hin durchleuchtet. Das Ausmaß dieser Versäumnisse ist für Westeuropäer kaum vorstellbar. In regelmäßigen Abständen kommen in Polen Staatsaffären ans Tageslicht. Sie sind Auswüchse des verfilzten und korrupten Staatsapparates, des Nepotismus und undurchsichtiger Verflechtungen zwischen politischen Eliten, der Wirtschaft und Kriminellen. Die brisanten Affären werden zwar von den unabhängigen Medien regelmäßig aufgedeckt und in Parlamentsausschüssen akribisch untersucht, doch am desolaten Zustand des Staates ändert das nichts.

Über die Ursachen des Problems ist sich das politische Lager rechts von den Postsozialisten einig: Bei der „friedlichen Revolution“ 1989 gingen die Oppositionellen aus der Solidarność-Bewegung am runden Tisch mit den alten Machthabern zu viele faule Kompromisse ein. Daraufhin standen bei der Transformation des Landes die Schaffung eines freien Marktes und individuelle Freiheitsrechte im Vordergrund, nicht aber der Umbau des Staates selbst. Doch auch später hatten die demokratisch gewählten Regierungen kein wirkliches Interesse an einer Staatsreform. Vor allem das postkommunistische Bündnis SLD, das von 1993 bis 1997 und von 2001 bis 2005 an der Macht war, blockte alle Reformen ab, ja machte Erreichtes teilweise wieder rückgängig. Gleichzeitig versank die SLD immer tiefer in Korruptionsskandalen. Das tief verwurzelte Misstrauen vieler Polen gegenüber dem Staat wuchs unaufhaltsam.

Die Rechnung dafür bezahlen die polnischen Linken jetzt mit ihrem Abstieg in die politische Bedeutungslosigkeit. Das Parteiensystem hat sich stark zu Gunsten des rechten Lagers verschoben, sodass die klassische Aufteilung in links und rechts derzeit überhaupt nicht mehr existiert. Neben der nationalkonservativen PiS bestimmen ausschließlich bürgerlich-liberale, nationalistische oder klerikale Parteien die Szenerie. Auch deshalb fällt es Beobachtern aus den wohltemperierten westeuropäischen Demokratien so schwer, Kriterien für die Beurteilung der polnischen Politik zu finden.

Nun hat sich die PiS aufgemacht, die Polen wieder mit ihrem Staat zu versöhnen und das Gemeinwesen zu stärken. Dafür will sie neben dem Lustrationsgesetz beispielsweise eine zentrale Stelle zur Korruptionsbekämpfung einrichten und den aus der kommunistischen Zeit stammenden militärischen Nachrichtendienst abschaffen. Ein weiterer Baustein dieser Strategie: Die Kaczyński-Brüder sprechen viel von Solidarität und staatlicher Fürsorge und appellieren an den Patriotismus.

Hat die PiS Erfolg, könnte sie ein reinigendes Gewitter sein, auf das ein demokratischeres Polen mit mehr Staatsvertrauen, mehr Gemeinsinn und weniger Korruption folgen mag. Scheitert sie jedoch – an der Unbezahlbarkeit ihrer Versprechen, an der Provinzialität ihres Personals oder an eigenen Affären –, könnte die PiS unberechenbar werden und dem Land nachhaltig Schaden zufügen. Bislang jedoch gibt es trotz der Koalition mit dubiosen Parteien kaum Anzeichen für eine Radikalisierung.

Deshalb sollte die deutsche Politik übersteigerten polnischen Populismus sowie antideutsche und schwulenfeindliche Rhetorik missbilligen, gleichzeitig aber den von der PiS eingeschlagenen Weg der Selbstreinigung durch Vergangenheitsbewältigung ausdrücklich gutheißen. Die deutschen Erfahrungen mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte könnten ein Schlüssel für die bessere Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern sein.

KATARINA NIEWIEDZIAL