DIE EIGENE, BERUHIGENDE STINKNORMALITÄT GENIESSEN
: Die Welt braucht böse Bilder

Trends & Demut

VON JULIA GROSSE

Kürzlich blätterte ich durch ein dickes Buch über historische Zoos, in denen Menschen Teil des Spektakels waren: Zu ihrer Linken sehen Sie das Affengehege, rechts die Tiger und hier unsere „afrikanische Buschfamilie“. Ich kann diese Bilder, Fotos und Radierungen kaum anschauen. Denn wirken diese erniedrigenden Abbildungen, von ahnungslos lächelnden Babys und versteinert schauenden Vätern, plötzlich mahnender, weil man das Ganze nun, hundert Jahre später, kritisch aufbereitet?

Ich finde nicht. Ganz im Gegenteil will ich wissen, ob die visuelle, unbehagliche Power hinter solchen Bildern nicht absolut unterschätzt wird? Natürlich gucke ich mir diese Fotos voller Abscheu an und kann es kritisch-moralisch verarbeiten. Doch was macht das Unterbewusstsein? Speichert das Gesehene ab und denkt sich seinen Teil: Ein historisches Bild zeigt einen alten nackten Mann in einem afrikanischen Dorf. Der weiße angezogene Ethnologe daneben ist über ein Meter größer und streckt abmessend den Arm aus. „Gott, wie erniedrigend“, denkt der Verstand. Und doch kann sich wahrscheinlich niemand davon befreien, den eigenen verinnerlichten Stereotypen unterbewusst direkt in die Falle zu gehen: „Ist das ein schlimmes Bild, war das eine schlimme Zeit! Aber sehr klein ist der Mann irgendwie schon?“

Was also tun mit den ganzen Archiven? Vielleicht ist die einzige Taktik, um diese Bilder zu vergessen, sie nicht mehr anzuschauen, nicht mehr herauszuholen, auszustellen, abzudrucken. Bei ganz zeitgenössischen Aufnahmen des „Anderen“ läuft es noch viel perfider: Der Londoner Fotograf Jim Naughten zum Beispiel reiste nach Namibia, um die Hereros in ihren militärischen Gewändern abzulichten. Das Ergebnis, ein schickes Coffeetablebuch, bedient die unveränderte voyeuristische Lust am „Anderen“, nur inzwischen viel besser ausgeleuchtet und am Mac nachbearbeitet.

Und beim Blick auf die Erfolgszahlen der TV-Serien von „Vice“, einer Art Untergang des investigativen Journalismus, wird noch offensichtlicher, dass wir so schnell gar nicht daran denken, unsere voyeuristischen, stereotypen Sehnsüchte abzulegen: Das Vice-Video vom „Menschenherz fressenden“ Warlord in der „kriminellen Hölle“ Sierra Leone, gefilmt von einem Ray-Ban tragenden „mutigen“ Vice-Team in gröbster Neo-Ethnologen-Manier, wurde bei YouTube 5.727.446-mal angeklickt. Die Vice-Doku über einen Selbstmord-Wald in Japan zogen sich sogar 6.838.469 Leute rein. Denn böse Bilder braucht die Welt. Gestern, heute, morgen. Warum? Um zu staunen und zu starren, aber auch, um Differenz zu spüren und sich der eigenen, beruhigenden Stinknormalität wieder einmal so richtig schön bewusst zu werden.

■ Julia Grosse ist freie Publizistin in Berlin