„Ich war absolut dumm“

INTERVIEW REINER METZGER

taz: Herr Sambeth, Sie waren als technischer Direktor für ein Werk zuständig, das den größten Chemieskandal Europas auslöste. Ihre Gefängnisstrafe von fünf Jahren aus der ersten Verhandlung wurde im Berufungsverfahren auf eineinhalb Jahre zur Bewährung ausgesetzt.

Jörg Sambeth: Ja, weil das Gericht in der zweiten Instanz wegen Fahrlässigkeit verurteilte und nicht mehr wegen Vorsatz.

Wer wurde denn noch verurteilt?

Der Werksleiter. Er war auch Deutscher. Alle Schweizer und italienischen Angeklagten wurden im Berufungsverfahren freigesprochen …

Vielleicht auch eine Folge des Systems von Schmiergeldern und verdeckten Beziehungen rund um das Seveso-Werk, das Sie in ihrem Buch darstellen?

So war es. Man hat davon auf beiden Seiten profitiert.

Klingt ja ein wenig zu klassisch: Die Eigentümerfamilie von Hoffmann-La Roche setzt einen Patriarchen als Vorstandschef ein und der schaltet und waltet dann, wie er will. Passiert etwas, werden ein paar Sündenböcke verurteilt.

Eigentlich war Hoffmann-La Roche eine Topfirma – was Investitionen, Modernität und Personalbehandlung betrifft. Sie haben mit der Icmesa in Seveso etwas gekauft, was überhaupt nicht dazugepasst hat. Diese Fabrik war absolut verludert. Und zwar nicht nur auf technischer Seite, sondern auch bei der Behandlung des Personals. Schlecht bezahlt, miese Stimmung, dreckige Arbeitsbedingungen. Die Fabrik wurde von den Vorbesitzern in diesen Zustand gebracht, einer Schweizer Industriellenfamilie.

Warum dann der Kauf?

Die Frage ist heute noch offen. Die Attitüde, dass möglichst nichts investiert und möglichst viel rausgeholt wird, stimmte nicht für die Eigner von La Roche. Sie stimmte aber für die Vorbesitzerfirma der Icmesa.

Es änderte sich nichts nach der Übernahme.

Ich habe die Anlage nicht gebaut, sondern von meinen Vorgängern übernommen. Und ich habe die absolute Dummheit gehabt und wohl auch Naivität, zu glauben, dass meine Vorgänger alles richtig gemacht haben, dass das, was von Roche kommt, perfekt ist. Ich will mich hier nicht freisprechen. Ich habe da einen großen Fehler gemacht.

Ein Arbeiter hat das Rührwerk des Reaktorkessels ausgeschaltet und so einen Hitzestau ausgelöst …

Der Unfall ist passiert durch schlampige Arbeit an dem Tag, stimmt. Aber eingefädelt wurde er lange Jahre voraus durch krasse Managementfehler.

Weil es Sicherheitsmaßnahmen geben muss, damit nicht einfach jemand das Rührwerk ausschalten kann?

Natürlich. Erst beim Chaos nach dem Unfall habe ich gemerkt, dass die Verantwortlichen überhaupt keine Informationen eingeholt hatten bei der Entscheidung, eine Anlage für Trichlorphenol zu bauen. Man wusste nichts über die Gefahren oder man wollte es nicht wissen.

Es gab ja auch Gerüchte nach dem Unfall, dass dort in Seveso mit der Herstellung von Dioxin für die chemische Kriegsführung experimentiert wurde.

Experimentiert ganz sicher nicht. Das hätte man gemerkt. Meine Vermutung ist eine ganz andere: Nach dem Vietnamkrieg durfte man in den USA kein Agent Orange mehr herstellen …

Ein wesentliches Vorprodukt des Entlaubungsmittels Agent Orange war mit Dioxin angereichertes Trichlorphenol. Das ruft noch heute in Vietnam Schäden hervor …

Ja. Das war dann verboten. Es gab keine Fabrik mehr in der Welt, die überhaupt den Grundstoff Trichlorphenol herstellte – außer Icmesa. Und die Konzernführung hat sich für diese Fabrik immer ganz speziell interessiert. Laut meiner Vermutung kaufte man das Werk, um aus dem Grundstoff Agent Orange schnell herzustellen – wenn nötig. Ohne technisch irgendetwas verändern zu müssen. Man brauchte nur die Dampftemperatur rund um den Reaktor erhöhen. Auch wenn ich fast davon überzeugt bin, dass es nie gemacht wurde.

Hatte diese Möglichkeit etwas mit dem Unfall zu tun?

Nein. Es haben sich zwar höhere Nato-Leute nach dem Unfall erkundigt, was passiert war. Aber die chemische Reaktion ist durchgegangen, weil an dem Tag der Dampf zu sehr aufgeheizt wurde, gepaart mit der abgeschalteten Rührung. Dadurch hat sich die Wärme im oberen Teil des Reaktors gestaut, das Dioxin entstand. Berechnungen haben dann hinterher ergeben, dass das Rührwerk nur zehn Minuten länger hätte laufen müssen. Dann wäre die Reaktion nicht mehr so explosiv abgelaufen, der Unfall wäre vermieden worden.

Sie haben vor zwei Jahren einen „Tatsachenroman“ geschrieben darüber, wie es zu all dem kommen konnte.

Nach langem Palaver mit Rechtsanwälten haben wir uns damals entschieden, die Namen zu verfälschen. Der Inhalt hingegen ist zu 80 Prozent Wahrheit, 10 Prozent von mir erlebt, aber etwas anders geschildert, und die restlichen 10 Prozent sind mir von Dritten zugetragen worden. In dem Dokumentarfilm „Gambit“ sind dann die Klarnamen genannt worden. Keiner der Beteiligten hat irgendwie reagiert.

Weil alle Beteiligten wussten, dass Sie noch das eine oder andere in der Hinterhand haben?

Das ist vielleicht ein Grund. Aber Sie müssen auch bedenken, dass die damals Beteiligten entweder auf dem Friedhof sind oder im fortgerückten Ruhestand.

Wie haben sich Sie oder Ihre Managementkollegen später mit dem Unfall befasst?

Als wir im vergangenen Dezember den Film „Gambit“ im Kino von Seveso vorgeführt haben, war ich der Erste, der sich bei den Betroffenen entschuldigt hat. Es gab eine erhitzte Diskussion, aber die Menschen dort waren froh, nach 30 Jahren endlich einmal die Hintergründe zu erfahren. Wir hätten natürlich die Fehler erst gar nicht begehen sollen. Aber ich habe das Buch geschrieben, damit solche Idiotien wenigstens nicht noch einmal wiederholt werden. Wenn ich an die Affäre in ihrer Gesamtheit denke und mich einmal freimache von den Emotionen für die armen Leute, die erkrankt sind oder ihre Häuser verlassen mussten – dann war der Seveso-Unfall ein Paradebeispiel für die Dummheit des Managements. Mich eingeschlossen.

TV-Hinweis: Der Dokumentarfilm „Gambit“ wird heute um 22.40 Uhr im Schweizerischen Fernsehen gezeigt. Im WDR dann am 28. August um 22.30 Uhr. Es gibt ihn auch als DVD.