: Wenn es keine Zukunft in Englands Träumen gibt, wie kann es dann Sünden geben?
RADIKALE KUNST Was ein gutes Leben ist, fragten im London der Siebziger nicht nur Graffiti. Die Seventies waren auch hier das wirklich radikale Jahrzehnt. 30.000 besetzte Häuser bildeten das Labor neuer Arbeitsweisen und Selbstbilder. Dies würdigt die Ausstellung „Goodbye London“ in der Berliner NGBK
■ Ausstellung: „Goodbye London. Radical Art and Politics in the Seventies“, Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) Berlin, bis 15. August: www.ngbk.de
■ Katalog 1: Astrid Proll (Hg.), „Goodbye to London. Radical Art & Politics in the 70’s“, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2010, 208 Seiten
■ Katalog 2: „Goodbye to London. Radical Art and Politics in the Seventies“, mit Texten von Boris von Brauchitsch und Jule Reuter, NGBK-Verlag, Berlin 2010, 48 Seiten
■ Als Zeitgeschichte: Jon Savage, „England’s Dreaming. Anarchie, Sex Pistols und Punkrock“, Edition Tiamat, Berlin 2003, 544 Seiten
VON ULRICH GUTMAIR
Die Stadt sieht aus, als habe eben noch Krieg geherrscht, ganze Häuserzeilen ausradiert von Hitlers Wunderwaffen. An den Straßenecken türmen sich Unrat und Müll. Wo noch Häuser stehen, wohnt keiner mehr, die Fenster sind vernagelt. Auf einem Zaun steht in großen Lettern geschrieben, als wäre es ein Witz: „Please don’t dump rubbish here“. Seine Serie von Schwarzweißfotos des menschenleeren London hat der Kulturkritiker Jon Savage 1977 aufgenommen.
Savages Fotos innerstädtischer Viertel, die von Spekulanten dem Verfall preisgegeben worden sind, bilden das Entrée zur Ausstellung „Goodbye London, Radical Art and Politics in the Seventies“ in der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst in Berlin Kreuzberg. Die Siebziger, das zeigt sich hier einmal mehr, waren nicht nur die wahren Sixties. Die Siebziger waren für die neue, jetzt anbrechende postfordistische und flexibilisierte, individualistische und liberale Ära das, was die Zwanziger für die Hochmoderne gewesen waren: ein Labor neuer Lebensentwürfe, Arbeitsweisen und Selbstbilder.
Ein Labor braucht Platz. Und den gab es in London noch zur Genüge. Dort hatte man in den Sechzigern erst langsam begonnen, Slums abzureißen und durch brutalistische Apartmentblocks zu ersetzen. Mitte der Siebziger waren in London gut 30.000 Häuser besetzt. Ohne die besetzten Häuser, meint Savage, hätte es „Radical Art and Politics in the Seventies“ – das heißt konkret unter anderem eine Massenbewegung linker Jugendlicher – nicht gegeben.
Einen Spielplatz haben
„Es war ein Privileg, mitten in London einen Spielplatz zu haben, auf dem Realität und Glaube ausprobiert und geprüft werden konnten“, erinnert sich Sacha Craddock. Der Siebzehnjährige hatte mit Freunden ein Haus in einem der alten Londoner Migrantenviertel zwischen Euston und Hampstead Road besetzt, das zu einem der Zentren wurde.
Mitten im Viertel requirierten Besetzer, meist Mittelklassekinder, die noch studierten, darunter einige angehende Anwälte, nach und nach fast alle Häuser des Tolmers Square. Von ihnen erzählen die Fotografien von Nick Wates und Patrick Allen. Zu sehen sind da Besetzer und Anwohner auf Straßenfesten. Letztere, etwa der asiatische Ladenbesitzer, tragen Anzug und Krawatte. Die Besetzer sind Hippies. Die Kinder haben sich vor dem Kasperletheater versammelt, eine Steelband macht Musik. Auf den Balkonen blühen wilde Pflanzen, drinnen sonnt sich Caroline Lwin, nur mit einem Slip bekleidet. Sie arbeitet an ihrer Schreibmaschine. Ein besetztes Haus – ein Squat, wie es auf Englisch heißt – ist ein Ort, an dem Arbeit Spaß macht. Die Kunst inspiriert das Leben, und die Politik lässt die Kunst nicht unberührt.
Punk lauert um die Ecke
Punk lauert um die Ecke. Auch seine Brutstätten sind die besetzten Häuser der Londoner Innenstadt. Kurze Haare, Lederjacken und schwarze Jeans lösen Ende der Siebziger in den Squats der Brixtoner Gay-Liberation-Aktivisten langsam Lila, lackierte Nägel, lange Haare und Bärte ab. Daran erinnert sich Mitkurator Peter Cross, der damals mittendrin war. Im armen Brixton haben die schwulen Aktivisten ganze Häuserzeilen besetzt. Auf einem Foto von Ian Townson sind sechs nackte, aber doch anstandshalber von einem weißen Laken bedeckte Männer gemeinsam im Bett zu sehen. Genüsslich demonstrieren sie den Willen, Heteronormen zu durchbrechen. Diese jungen Männer sind „not sad, not bad, not mad, but glad to be gay“, wie es auf einem Demoplakat heißt.
Abordnungen der schwulen Aktivisten der Gay Liberation Front unterstützen die Streiks in der Grunwick-Fabrik. Dort kämpfen seit 1976 erstmals asiatische Arbeiterinnen aus Indien und Pakistan für ihre Rechte. Sie werden zu Überstunden gezwungen und schlecht bezahlt. Homer Sykes’ Fotos zeigen die Streikführerin, eine zierliche Frau namens Jayaben Desai. Auf einem der Bilder ist Desai mit einem siegessicheren Lächeln und erhobener Faust zu sehen. Über dem Sari trägt sie eine Strickjacke, eine Handtasche hängt ihr über der Schulter.
Das sind andere Männer
Der Kampf wird im Lauf des Jahres 1977 zu einer in ganz Großbritannien beachteten Angelegenheit. Unterstützt wird er von jungen Feministinnen. Unter ihnen ist Astrid Proll, die die Ausstellung mitkuratiert hat. Als Arthur Scargill, Anführer des späteren, legendären Miners Strike, mit seinen Kollegen die Streikenden von Grunwick besucht, setzen sich Proll und ihre feministischen Freundinnen im Pub zu den Gewerkschaftern aus dem Norden: „Nie zuvor hatten wir solche Männer kennengelernt“, erinnert sie sich. Die Arbeiter waren vermutlich keine „neuen Männer“. Vielleicht gerade deswegen war etwas dran an ihnen, das junge Feministinnen beeindruckte. Leider erzählt uns Proll in ihrem Text nicht, was das war.
Denn die Widersprüche innerhalb der großen, höchstens irgendwie linken Koalition von Marxisten, Anarchisten, Lesben, Urschreitherapeuten, Hippies, Peaceniks, Punks, Feministinnen, Hausbesetzern, Sozialdemokraten, Migranten, Arbeitern, Bioladenbesitzern, Gewerkschaftern und Situationisten sind nur dann nicht wirklich von Belang, wenn es nicht um politische Ideen und Praktiken, sondern zuerst um die als individuell für richtig empfundene Gestaltung des eigenen Lebens geht.
Was also unterscheidet die Gay-Liberation-Aktivisten vom Arbeiterführer Scargill, was die beim Arbeiten sonnenbadende Caroline Lwin vom Tolmers Square von der eben nach London eingewanderten, nun einen Streik führenden Jayaben Desai? Desai und Scargill kämpfen für bessere Arbeitsbedingungen und ein gutes Leben für die arbeitenden Massen. Viele der jungen Leute in den Squats tun das auch. Das eigentliche Ziel der neuen Bewegung aber heißt wohl eher Selbstverwirklichung. Das Ziel der einen ist ein politisches und materielles, das der anderen ist ein romantisches und emotionales. Die einen sind von den Erfahrungen des Lebens der britischen Arbeiterklasse, von Mangel und Not geprägt. Der Postmaterialismus der anderen basiert auf Wohlstand und Wissen.
Wann ist die Kunst radikal?
Trotzdem wollen die Fotos der Besetzer vom Tolmers Square, den Häusern der Gay Liberation Front, des Grunwick-Streiks natürlich den Beweis der alten, linksavantgardistischen Idee antreten, dass die politische Praxis vor allem vom „Leben“, aber auch von der künstlerischen Praxis nicht zu trennen sei. Aber wann ist die Kunst radikal, die im Kontext militanter oder vielleicht auch nur lebensreformerischer Praktiken – hier also Häuserbesetzen, Feminismus, Schwulenbewegung, Arbeitskampf – entsteht? Die Arbeiten der feministischen Künstlerin Jo Spence geben darauf eine scheinbar eindeutige Antwort. Jo Spence ist mit ihren Selbstinszenierungen bekannt geworden, in denen sie sich 1979 als „Sex Object“ mit laszivem Blick und großem Dekolleté fotografieren ließ.
Das ist witzig. Radikaler aber erscheint ihr „Helmet Shot“ aus demselben Jahr. Spence posiert hier wie ein Pin-up-Model, beide Arme über dem Motorradhelm verschränkt, den sie trägt. Eine lange Narbe verläuft senkrecht über ihre linke Brust. Die Sprache sexueller Verfügbarkeit wird durch den versehrten Körper gebrochen, mittels des Helms aber in einen bitteren Witz mit beinahe metaphysischen Qualitäten gewendet.
Das Volk aufklären
Victor Burgin spielt ebenfalls mit dem Thema Sexualität. Auf einem schwarzen Poster von 1973, das ganz der zeitgenössischen Werbeästhetik verpflichtet ist, stellt er die Frage: „Was bedeutet Ihnen Besitz?“ Darunter ein romantisches Agenturbild, auf dem sich ein attraktives heterosexuelles Paar in makelloser weißer Kleidung umarmt. Darunter konstatiert ein kurzer Text: „7 % unserer Bevölkerung besitzen 84 % unseres Vermögens“. Burgin druckte 500 Plakate mit diesem Motiv und hängte sie in der Gegend um Newcastle auf.
Ist radikal demnach nur ein anderes Wort für didaktisch-subversiv? Dass eine radikale Kunstpraxis vielleicht doch noch etwas anderes, dass sie mehr meinen könnte, zeigen in der Ausstellung Filme von Stuart Brisley und Derek Jarman. Stuart Brisleys Film „Arbeit macht frei“ entstand 1973. Anfangs ist Brisley in schwarzer Kleidung vor weißem Hintergrund zu sehen. Er übergibt sich immer wieder, bis nur noch Magenflüssigkeit und Galle kommen. Später ist vor allem das Gesicht von Brisley zu sehen. Der Rest seines Körpers befindet sich in einer schwarzen Flüssigkeit. Atemgeräusche sind zu hören, manchmal dringt die schwarze Brühe in Mund und Nase.
Brisley hat erst vor kurzem darauf hingewiesen, es sei damals, auch 25 Jahre nach Kriegsende noch nicht gefragt worden, was die Tatsache der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie für unser Verständnis möglichen menschlichen Verhaltens bedeute. Sich zu übergeben sei eine direkte körperliche Reaktion auf diese Realität.
Derek Jarman liefert dazu die Gegenbilder. Sein auf Super 8 gedrehter, elf Minuten langer Film heißt „Sloane Square“. Jarman zeigt im Zeitraffer sein Atelier in einer Lagerhalle in den Docklands, wo er auch lebt. Zwei Jahre lang hat er kurze, nicht einmal sekundenlange Aufnahmen gesammelt. Ein Stakkato von Bildern aus Jarmans Wohnzimmer lässt die Jahre 1972 bis 1974 in rasender Geschwindigkeit vorbeiziehen. Erst steht die Kamera still und registriert den Lauf der Zeit in Gestalt von Leuten auf dem Sofa oder am Telefon. Später tastet sie die Räume ab und erfasst Pflanzen, Schrank, Gesichter, Kleider, Vasen, Brustwarzen, Stuhl, den Blick nach draußen und nackte Männer, die mit Fächern wedeln. Später sieht man Leute vor einem Graffiti: „We are living in a fantastic palace“.
Das Leben ausschöpfen
Jarman zeigt den Alltag und das Zusammenleben, das als wundersam vielfältiger, in seiner Lebendigkeit schöner Prozess erscheint. Dieser konfiguriert sich aus ungezählten Momenten und Gegenwärtigkeiten ständig neu und ruft so ein beinah religiöses Staunen vor der Tatsache hervor, dass es das alles gibt. Vielleicht ist das eine wirklich radikale Aussage, wenn man sie in all ihren Facetten bedenkt: Das Leben ist wunderbar – wenn man seine Fülle ausschöpfen kann.
Das geheime Motto dieser Ausstellung ist daher ein Graffiti, das die situationistische Gruppe King Mob in den frühen Siebzigern nahe der U-Bahnstation Ladbroke Grove angebracht hatte und mehr als zehn Jahre zu lesen war: „Tag für Tag das Gleiche: U-Bahn – Arbeit – Mittagessen – Arbeit – U-Bahn – Sessel – TV – Schlafen – U-Bahn – Wie lang hältst du das noch aus – Einer von zehn dreht durch – Einer von fünf bricht zusammen“. Die Ausbeutung, die hier beklagt wird, ist so materiell wie emotional, so profan wie spirituell. Ein Streik wird sie nicht beenden.