Europa als letzte Hoffnung

KANDIDAT In Serbien hat sich seit dem Sturz von Milosevic viel getan. Reicht das für die EU?

■ Der Blick auf die sozialen Zustände im 11-Millionen-Einwohner-Staat Serbien ist erschreckend: 23 Jahre nach dem Ende des gemeinsamen jugoslawischen Staates betragen die Außenschulden über 80 Prozent des Bruttonationaleinkommens. Alte Kredite müssen daher mit immer neuer Verschuldung gedeckt werden. Die Arbeitslosigkeit beträgt knapp unter 30 Prozent – und die notwendige Reform des gigantischen Beamtenapparats und bankrotter staatlicher Unternehmen wird die Streichung weiterer Hunderttausender Jobs erfordern. Dabei beträgt das monatliche Durchschnittseinkommen schon jetzt nur rund 400 Euro. Damit fehlen 20 Prozent zu der Summe, die nötig ist, um alle lebenswichtigen Güter einzukaufen. Zudem ist die Kaufkraft der Landeswährung, des serbischen Dinar, in den vergangen fünf Jahren um rund 30 Prozent gesunken. (ai)

AUS BELGRAD ANDREJ IVANJI

Freude und Erleichterung waren Ivica Dacic ins Gesicht geschrieben, als der Ministerpräsident Serbiens verkündete: „Die Europäische Union ist nicht mehr nur ein Traum, ein Wahlversprechen – die EU ist heute die Wirklichkeit und die Hoffnung.“ Nachdem der EU-Ministerrat im Dezember einstimmig zustimmte und die Staats- und Regierungschefs der EU es bestätigten, gratulierte Dacic nun den Serben zum „historischen“ Beginn der Beitrittsverhandlungen am 21. Januar.

Tatsächlich ist Serbien in den vergangenen fünfzehn Jahren über seinen eigenen Schatten gesprungen: Der Kampf gegen den „westlichen neofaschistischen Neoimperialismus“ wandelte sich zur „strategischen Partnerschaft mit der EU“.

Noch im Frühjahr 1999 hatte die Nato Serbien wegen Kosovos, aus Sicht der serbischen Nationalisten die „Wiege des Serbentums“, bombardiert. Damals, im xenophobischen, international isolierten Serbien, war Dacic Pressesprecher des serbischen Präsidenten Slobodan Milosevic. Sein Vize Aleksandar Vucic, im heutigen Serbien der eigentliche starke Mann, war Milosevic’ Informationsminister.

Heute dagegen herrscht in Serbien ein politischer Konsens über die europäische Zukunft des Landes. Nur eine einzige marginale Partei im Parlament in der Hauptstadt Belgrad ist gegen den EU-Beitritt. Die anderen Oppositionsparteien, die Milosevic im Jahr 2000 stürzten und Träger der anschließenden demokratischen Wende waren, sind traditionell für Europa.

Der Schönheitsfehler beim historischen Erfolg sind weitere an das Kosovo geknüpfte Bedingungen der EU. Die Normalisierung der Beziehungen mit der ehemaligen serbischen Provinz, die seit Ende des Kosovokriegs nicht mehr von Belgrad kontrolliert wird, war nicht nur die Voraussetzung für den EU-Durchbruch; sie wird auch das Tempo der weiteren Verhandlungen bestimmen; und am Ende dieses Verhandlungsprozesses wird Belgrad eine „rechtlich bindende Vereinbarung“ über die „alles umfassende Normalisierung der Beziehungen“ mit dem Kosovo unterzeichnen müssen.

Derzeit fordert zwar kein EU-Staat von Serbien, die Unabhängigkeit Kosovos formal anzuerkennen – doch etwas anderes kann man sich unter den Forderungen Europas kaum vorstellen. Womöglich wird Serbien unmittelbar vor der Mitgliedschaft auch diesen Tabubruch meistern müssen.

Doch bis dahin ist es ein langer Weg. Skeptiker fürchten, dass Serbien wegen Kosovos eine Art „türkisches Szenario“ droht, in dem Belgrad wie Ankara zum ewigen EU-Anwärter wird. Andere glauben, dass das Land alle Voraussetzungen hat, in Rekordzeit alle EU-Hürden zu meistern. „2020 wird Serbien Mitglied der EU“, gibt sich etwa Premier Dacic optimistisch.

Tatsache ist, dass die Regierung Serbiens alles auf die EU-Karte gesetzt hat – denn die Annäherung an die Union ist der einzige Erfolg, den sie vorzuweisen hat. Abseits dessen ist die vage Hoffnung auf eine bessere europäische Zukunft von alltäglichem sozialen Unmut überschattet (siehe Kasten). „Diese EU-Verhandlungen bringen uns auch kein Futter auf den Tisch“, hört man oft.

Das weiß auch Vizepremier Vucic, deshalb bleibt auch eine richtige Debatte über die ferne rosige europäische Zukunft aus. Die Krise in Serbien dauert zweieinhalb Jahrzehnte, die zermürbten Menschen wollen nicht länger auf ein besseres Leben warten. Den Beginn der EU-Verhandlungen betrachten die meisten Menschen als etwas Gutes, weil „Aleksandar der Große“ (Vucic) sagt, dass sie gut sind.

Seine Popularität hat Vucic seinem „mutigen“ Kampf gegen Korruption und das organisierte Verbrechen und die Tycoons zu verdanken. Kritiker werfen ihm jedoch vor, dass sich diese „Jagd auf Kriminelle“ in eine „Verfolgung der politischen Gegner“ verwandelt hätte. Der Vizepremier hat keine nennenswerte Opposition mehr gegen sich und die meisten Medien auf seine Seite gezogen. Er erwägt es, für März vorgezogene Wahlen auszuschreiben, seine Serbische Fortschrittspartei (SNS), Seniorpartner in der Koalitionsregierung, kann mit einer Unterstützung von rund 50 Prozent und absoluter Macht rechnen.

Und Brüssel soll das nur recht sein, so lange er auf EU-Kurs bleibt und in puncto Kosovo zusammenarbeitet. Auch wenn Vucic praktisch ohne Opposition und ohne kritische Medien mit populistischen Methoden regiert und eines der Fundamente der Demokratie – die Abwählbarkeit der Macht – in Serbien für lange Zeit in Frage gestellt werden könnte.