Zu spät für die Toten

Das Straßburger Urteil über die Vergabe von Brechmitteln löst bei den Innenbehörden im Norden keine Reaktion aus. Doch es könnte dazu führen, den Tod zweier Afrikaner in Bremen und Hamburg als Verstoß gegen die Menschenrechte zu bewerten

von Kai von Appen

Obwohl sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte deutlich gegen die Brechmittelvergabe an vermeintliche Drogendealer ausgesprochen hat (taz berichtete), sieht Hamburg keinen Anlass, seine Hardcore-Praxis schnell zu korrigieren. „Wir sitzen hier und warten auf das Urteil“, sagte gestern Henning Claasen, Büroleiter von Hamburgs Justizsenator Carsten Lüdemann (CDU), der taz. Auch dem Bundesjustizministerium liege der genaue Wortlaut noch nicht vor.

Die Verlautbarungen nach dem Straßburger Richterspruch seien interpretierbar und einige Formulierungen müssten einer genauen juristischen Prüfung unterzogen werden, so Claasen weiter. Das betreffe zum Beispiel die ärztliche Betreuung bei einem solchen Eingriff. Für Hamburgs Justizbehörde sei das Urteil daher zunächst als eine Einzelfallentscheidung zu bewerten. Ähnlich äußert sich das Justizministerium in Niedersachsen.

Die Grüne Opposition hat den Hamburger Senat dagegen zum sofortigen Handeln aufgefordert und den Stopp der Brechmitteleinsätze verlangt. Das Gericht habe festgestellt, dass die Vergabe von Brechmitteln eine inhumane Behandlung sei und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoße. „Diese Klarstellung war dringend nötig, um den betroffenen Personen eine Möglichkeit zur Klage zu geben“, so die grüne Innenexpertin Antje Möller. Vor allem sei damit die „unsägliche politische Diskussion“ um die Verharmlosung der Brechmittel beendet.

Möller übte auch heftige Selbstkritik. Es sei eine „fatale Fehlentscheidung“ gewesen, in den letzten Monaten der rot-grünen Koalition in der Hansestadt „die damals schon politisch hoch strittige Entscheidung“ zu treffen, die Brechmittelvergabe zuzulassen.

SPD-Innenpolitiker Andreas Dressel verteidigt dagegen unbeirrt die Entscheidung von 2001. Nun müsse nach Alternativen gesucht werden, dass, so O-Ton Dressel, „die Drogendealer dem Rechtsstaat nicht wieder auf der Nase rumtanzen“.

Im Dezember 2001, nur wenige Monate nach der Zulassung der Brechmittelvergabe, war der Afrikaner Achidi John im Uniklinikum Eppendorf an Herzstillstand gestorben. Auf Druck des damaligen Hamburger Interims-Innensenators Olaf Scholz (SPD) hatte man ihm den mexikanischen Brechmittel-Sirup Ipecacuanha durch eine Nasensonde zwangseingeflößt. Wegen der heftigen Gegenwehr von John hatte die Rechtsmedizinerin den Vorgang zuvor zweimal abbrechen müssen, obwohl vier Polizisten mit Hand anlegten. Trotz des tragischen Todes gab der Schwarz Schill-Senat bereits im Sommer des folgendes Jahres wieder grünes Licht für die Brechmittelvergabe – trotz massiver Proteste der Ärztekammer und des Widerstands vieler Mediziner am Uniklinikum.

Die Ärzte verwiesen damals auf humanere Möglichkeiten, an verschluckte Drogen zu kommen, ohne das Leben des Betroffenen zu gefährden. Dazu gehört das Ausscheiden über den natürlichen Stuhlgang, wie es mittlerweile in Bremen praktiziert wird – wenn auch erst, nachdem dort der 35-jährige Laye-Alama Condé aus Sierra Leone gestorben ist. Ein Polizeiarzt hatte ihm am 27. Dezember 2004 so lange Brechmittel mit Wasser eingeflößt, bis er erstickte.

In einer Fallstatistik zeigt sich in Bremen mittlerweile, das vermeintliche Drogendealer den Ipecacuanha-Sirup lieber freiwillig schlucken, als drei Tage auf dem gläsernen Drogenklo zu hocken.

Während die Bremer Staatsanwaltschaft vor zwei Monaten gegen den Polizeiarzt Anklage erhob, ist das Verfahren gegen die Hamburger Rechtsmedizinerin eingestellt worden. Selbst ein Klageerzwingungsverfahren der Hamburger Anwälte Gabriele Heinecke und Martin Klingner, die die in Nigeria lebenden Eltern Achidi Johns vertreten, blieb erfolglos.

Das könnte sich nun ändern: „Das Urteil mit seinen neuen Gesichtspunkten ist durchaus Grundlage, den Fall noch mal neu zu bewerten“, sagt Klingner.“ Denn der Europäische Gerichtshof habe das Gegenteil von dem ausgeführt, was deutsche Gerichte bisher gesagt hätten. Seine Kollegin Heinecke bringt es auf den Punkt: „Das Urteil ist die Qualifizierung der Brechmittelvergabe als Folter und Verstoß gegen die Menschenrechte.“

Auch der Umstand, dass die Bremer Staatsanwaltschaft den Brechmitteltod „anders bewertet hat“, könnte laut Klingner ein Ansatzpunkt sein, ein Wiederaufnahmeverfahren zum Tod von Achidi John zu erwirken.