„Sich aus der Macht der Sehkultur lösen“

200 Jahre Berliner Blindenbildung in einer Ausstellung. Die Kuratorin Anna Döpfner spricht über Anschaulichkeit, Berührungsängste und Tast-Erdbälle

INTERVIEW KATRIN BETTINA MÜLLER

taz: Jahrhundertelang hatten Blinde nur eine Chance, zu überleben: betteln und singen. Das änderte sich, als die Blindenbildung Einzug in die Pädagogik hielt. In Berlin begann das vor 200 Jahren mit einer Schule. Wie kam es dazu?

Anna Döpfner: Der Geograf August Zeune hatte 1806 in Berlin den Gründer der Pariser BlinValentin Haüydenschule, Valentin Haüy, getroffen. Dieses Treffen hat ihn sehr beflügelt: Er hat daraufhin nicht nur eine Blindenschule gegründet, sondern auch geheiratet. Weil er glaubte, dass eine solche Schule Betreuung durch ein Paar braucht. In einem einzigen Jahr hat Zeune beides erledigt: geheiratet, die Schule gegründet und mit seiner Frau die ersten blinden Schüler in der Gipsstraße aufgenommen, die dort auch wohnten.

Ausgerechnet ein Geograf wurde Blindenlehrer?

Zeune brachte in seine neue Arbeit gleich seine Leidenschaft für die Geografie ein. Er baute Relief-Landkarten und -Globen, erst in Pappmaché, dann in Gips. Er nannte sie, als Reaktion auf die Französische Revolution, eingedeutscht, „Tast-Erdbälle“ und vertrieb sie in der ganzen Welt.

In der Ausstellung „Fühlen, Hören, Sehen“ erzählen Sie die Geschichte der Blindenbildung, die mit Zeunes Schule begann. Ein großer Teil auch der neueren Ausstellungsstücke sind Unterrichtsmaterialien: Modelle von Sinnesorganen oder präparierte Tiere. Es erstaunt, wie wenig sich da bis Mitte des 20. Jahrhunderts geändert hat.

Das hat damit zu tun, dass immer das Objekt im Mittelpunkt des Lernens stand, das Ding, nicht so sehr die Theorie. Diese Bezogenheit auf den Gegenstand fasziniert mich an der Blindenbildung. Darin sehe ich Parallelen zu unserer Arbeit hier am Museum: Erkenntnisse über einen Gegenstand so anschaulich zu machen, dass man sie anfassen kann.

Die Blindenbildung war also ein wichtiger Baustein auf dem Weg zur modernen Didaktik?

Ja, August Zeune war angeregt von Pestalozzi, den er in der Schweiz besucht hat, und vom Gespräch mit Friedrich Wilhelm August Fröbel, dem Begründer des Kindergartens. Der fand, ebenso wie Zeune, das Tasten sehr wichtig und hat dementsprechende Lernobjekte gebaut. Beide fanden, dass man Arbeiten, Spielen und Lernen verknüpfen müsste. Auch viele sehende Schüler hätten mehr Freude am Unterricht, wenn sie die Prinzipien der Blindenbildung vermittelt bekämen, statt stärker auf Theoretisierung getrimmt zu werden.

Heute ist Blindheit oft ein Motiv für die Kunst. Choreografen arbeiten mit blinden Tänzern, weil sie deren Orientierungsvermögen interessiert, Fotografen und Klangkünstler suchen nach einer Übersetzung für die Raumwahrnehmung der Nichtsehenden.

Die Fähigkeiten der Blinden, das Tasten und Hören, geht den Sehenden zunehmend verloren. Wir sind eine auf das Auge ausgerichtete Gesellschaft geworden. Das spiegelt sich übrigens auch darin wieder, dass für die zunehmende Zahl TV- und filminteressierter Blinder mittlerweile die Hörfilm-GmbH gegründet wurde, die Filme mit einer Hörbeschreibung versieht. Der Anschluss an die Sehkultur ist für Blinde wichtig. Was nicht einfach ist, wenn man bedenkt, dass in so einer Kultur das Berühren immer mehr in den Hintergrund tritt: Wir vermeiden ja Berührungen. Berührungen werden kritisch gesehen, gerade auch zwischen Schülern und Lehrern. Blinde müssen sich deswegen immer auf den anderen zubewegen, müssen eine Grenze überschreiten, um überhaupt zu einer Erfahrung der Umwelt zu kommen. Ich merke auch bei den Führungen für Blinde, die ich im Museum mache, diese Scheu: einfach eine Hand zu fassen, um auf einen Gegenstand aufmerksam zu machen.

Nicht mit der Hand anfassen muss man Musik. In einer Hörstation der Ausstellung läuft Musik von blinden Musikern wie Ray Charles.

Ich denke, dass Blinde anders hören. Intensiver. Ein Musiker hat mir erzählt, dass er eine erhöhte Aufmerksamkeit spürt, wenn Blinde im Publikum sind. Das hängt natürlich mit der Notwendigkeit zusammen, sich akustisch orientieren zu müssen. Musik war für Blinde immer eine gute Berufsmöglichkeit, als Musiker oder als Klavierstimmer. Die Entwicklung der Blindenpädagogik im Zuge der europäischen Aufklärung hatte – und das muss man in seiner politischen Wichtigkeit immer mitdenken – letztlich aber immer die Arbeitsfähigkeit des Individuum im Auge und nicht nur die individuelle Entfaltung. Es ging um die Möglichkeiten der nützlichen Eingliederung, zum Beispiel eben als Musiker.

Die Wahl der Arbeitsmöglichkeiten scheint aber auch mit Schulbildung weiterhin sehr eingeschränkt gewesen zu sein – auf das Blindenhandwerk Korb- und Bürstenmacherei zum Beispiel. Das hat auch immer den Anschein einer Bevormundung, als hätte es da nie eine wirkliche Wahl gegeben.

Schon am Anfang des 20. Jahrhunderts hat ein blinder Jurist, Rudolf Krämer, darauf gedrängt, dass sich Blinde in Genossenschaften zusammenschließen, um sich aus der Bevormundung zu lösen. Die Wende bei den Erwerbsmöglichkeiten kam aber erst durch den Ersten Weltkrieg. Da kamen viele Soldaten blind aus dem Krieg zurück – und hatten als Helden eine politische Lobby. Da gab es zum ersten Mal große Bemühungen, die zurückgekehrten Soldaten so zu schulen, dass sie entweder im Büro oder in der Industrie arbeiten konnten. Wir zeigen eine Schreibmaschine für einen einarmigen Blinden, die für diesen Umschwung im Denken steht. Blinde haben Schreibmaschinen lange vor den Sehenden regelmäßig benutzt.

Beeindruckend ist ein Film aus der Zentralbibliothek für Blinde in Hamburg von 1925. Die Bücher, die dort ausgeliehen und gedruckt werden, sind alle sehr groß, weil die Punktschrift viel Platz beansprucht. Wie hat sich durch die Braille-Schrift der Zugang zu Berufen verändert?

Die Braille-Schrift ist der absolute Durchbruch in der Blindenbildung. Als Zeune seine Schule 1806 gründete, versuchte man noch, die Blinden an die „Schwarzschrift“, wie die Blinden unsere Schrift nennen, zu gewöhnen – mit Buchstaben aus Draht oder Stachelschrift. Aber diese Linien ließen sich schlechter tasten als die Punktschrift, die Braille, ein Schüler der Pariser Schule, 1825 erfunden hat. Trotzdem brauchte sie lange, über 50 Jahre, um sich durchzusetzen. Das liegt daran, dass viele Sehende darin eine Geheimschrift sahen: Sie konnten sie selbst nicht lesen, also förderten sie sie auch nicht.

Heißt das, die Sehenden haben lange verhindert, dass die Blinden sich mit einer Schrift helfen konnten, nur weil die Sehenden sie nicht lesen konnten?

Ja, das war eine ganz klare Form der Machtausübung. Auch ein Abhängigmachen. Unsere Ausstellung zeigt, wie schwer es war und ist, sich aus der Bevormundung durch Sehende zu lösen.

„Fühlen, Hören, Sehen – 200 Jahre Blindenbildung in Berlin“. Bis 15. 10., Deutsches Technikmuseum, Trebbiner Str. 9, Di.–Fr. 9–17.30 Uhr, Sa. u. So. 10–18 Uhr