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Archiv-Artikel

Der reine Stoff

SUCHT Heroin ist Teufelszeug. Klar. Heroin gibt’s jetzt vom Arzt. Alles klar? Ja: Für manche Abhängige ist eine kontrollierte, medizinisch betreute Nutzung die Rettung

Kleine Heroinkunde

■ Die Entdeckung: Das aus dem Schlafmohn gewonnene Opium ist schon lange für seine beruhigende und schmerzstillende Wirkung bekannt. Anfang des 19. Jahrhunderts isolierte ein Paderborner Apothekergehilfe das Morphium, ein Londoner Chemiker synthetisierte daraus schließlich 1873 erstmals Diacetylmorphin. Die Bayer AG ließ sich dafür 1898 den Markennamen „Heroin“ schützen und verkaufte es unter anderem als Hustenmittel.

■ Die Wirkung: Oral eingenommen wirkt Heroin wenig berauschend – aber um ein Vielfaches schmerzstillender als Morphium. Intravenös verabreicht, erreicht es nach Sekunden die Rezeptoren im Gehirn und erzeugt den berühmten „Kick“. Nebenwirkungen unter anderem: Verstopfung, Impotenz, Krämpfe. Insbesondere zusammen mit anderen Sedativa wie Alkohol kann eine hohe Dosis zum Atemstillstand führen. Das Abhängigkeitspotenzial ist extrem hoch.

■ Der Missbrauch: Schon Anfang des 20. Jahrhundert gab es in den USA einen breiteren Missbrauch als Rauschdroge. Diese Rolle spielt es in Deutschland erst seit Ende der 1960er Jahre. Bayer hatte schon 1958 den Vertrieb von Heroin in Deutschland eingestellt. In Großbritannien ist es noch heute als verschreibungspflichtiges Schmerzmittel erhältlich. (mah)

VON MANUELA HEIM ILLUSTRATION MICHAEL SZYSZKA

Die Venen am Arm sind dicht. Keine Chance, die klare Flüssigkeit in den ausgemergelten Körper zu drücken. Vielleicht klappt es an der Wade. Oder auf dem Fußrücken. Seit einigen Minuten schon hantiert die Frau mit der Spritze. Im Flur hocken die anderen, die darauf warten, sich ihren Schuss zu setzen. Wirklich eilig hat es aber keiner, schließlich ist genug Stoff da. Und was für einer: In der ersten Diamorphin-Ambulanz Berlins gibt medizinisches Fachpersonal allerreinstes Heroin aus, wie man es seit Ewigkeiten nicht mehr auf der Straße bekommt. Heroin auf Rezept.

Erst seit einem knappen halben Jahr gibt es die Ambulanz im Wedding. Heroinabhängige bekommen hier Tag für Tag ihre Droge als Kassenleistung. So viel, wie sie brauchen, so lange, wie es nötig ist. Warum? „Weil sie darauf angewiesen sind“, sagt Thomas Peschel, der behandelnde Arzt.

Schon über dreißig Jahre lang kämpfen die Berliner Behörden einen Stellungskampf gegen die Heroinszene. Die Zahl der Süchtigen ist nach offiziellen Statistiken seit Ende der Siebziger nicht mehr gesunken. Aktuell kommen auf geschätzte 9.000 Abhängige 5.000 Therapieangebote – in Selbsthilfeeinrichtungen, Entzugskliniken oder Substitutionsprogrammen. Und doch kann sich am Kottbusser Tor jeder die offene Szene anschauen, die von keinem dieser Angebote erreicht wird – oder die der Suchtdruck trotzdem hertreibt.

Ein sehr langer Weg

Der Weg bis zur ärztlichen Vergabe von Heroin ist lang gewesen. Dabei wird schon Ende der siebziger Jahre deutlich, dass der Zwang zur Abstinenz nicht die einzige Form des Umgangs mit Abhängigen sein kann. Zu viele fallen immer wieder zurück in die Szene, die nur aus Kriminalität, Prostitution, seelischer und körperlicher Verwahrlosung zu bestehen scheint und damals am Bahnhof Zoo ihr sichtbarstes Epizentrum hat.

Einer ersten Studie von 1978 zufolge gibt es rund 7.000 Heroinabhängige in Berlin. Eine ganze Generation Jugendlicher scheint verloren an die Teufelsdroge mit dem sagenumwobenen Kick. Die Politik steht unter einem Druck, der nicht in erster Linie mit Moral oder Mitgefühl zu tun hat. Sondern ab Mitte der Achtziger vor allem mit der Angst, dass sich das HI-Virus über die Beschaffungsprostitution der Junkies in der „Normalbevölkerung“ ausbreitet.

Deshalb schafft es Methadon als Ersatzstoff in die Arztpraxen. Wie Heroin ist es ein Opiat, aber es wirkt wesentlich langsamer und vor allem gegen die körperlichen Entzugserscheinungen. Seit rund 25 Jahren wird es zur Substitution verwendet, es hat vielen beim Absprung aus der Szene geholfen. Aber auch Methadon macht abhängig, und es stumpft auf Dauer ab. Vor allem hilft es vielen nicht gegen den Suchtdruck, die psychische Abhängigkeit von Heroin. Deshalb treibt es Schwerstabhängige weiter auf die Straße, nicht selten verticken sie einen Teil ihres Methadons für Heroin.

Eine zweite Studie aus dem Jahr 1993 schätzt die Zahl der Berliner Heroinabhängigen auf rund 8.000. Noch einmal zwanzig Jahre später werden es eher mehr als weniger sein, die meisten davon seit über zehn Jahren abhängig.

Trotz Substitution bleibt die Beschaffungskriminalität ein sicherheitspolitisches und finanzielles Problem, das schließlich zum Bruch eines jahrzehntelangen Tabus führt: Eine illegalisierte Substanz soll im Rahmen des staatlichen Gesundheitssystems abgegeben werden.

Im Jahr 2002 startet in sieben deutschen Städten eine Studie: 1.300 Süchtige nehmen daran teil, in Spezialambulanzen erhalten sie entweder Heroin oder Methadon. Berlin, das neben Hamburg die größte Heroinszene Deutschlands hat, ist nicht unter den Modellstandorten. 2006 liegen die Ergebnisse vor und sprechen klar für das Heroin: Die Teilnehmer nehmen deutlich weniger andere Drogen, werden kaum mehr straffällig. 2009 gibt der Bundestag grünes Licht für die heroingestützte Behandlung, seit Oktober 2010 ist sie – unter strengen Auflagen – Leistung der gesetzlichen Kassen. Es soll noch einmal drei Jahre dauern, bis Thomas Peschel, vorher Leiter der Hannoveraner Modellambulanz, die erste Praxis in der Hauptstadt eröffnet.

„Ja, das ist Heroin.“ Peschel steht im Vergaberaum seiner Ambulanz. Kariertes Markenhemd in der Jeans, Lederschuhe. In der Hand hält der Arzt eine Flasche mit klarer Flüssigkeit. „Ich sage aber lieber Diamorphin, das ist der chemische Name. Heroin ist mit so vielen negativen Assoziationen belegt.“

Die Fixer heißen in der Diamorphinambulanz Patienten, einmal im Quartal müssen sie ihre Versicherungskarte einlesen lassen. Der Raum hinter der Glasscheibe, durch die ein Pfleger die aufgezogenen Spritzen reicht, wird Applikationsraum genannt. Hier stehen namentlich gekennzeichnete Schalen, darin Desinfektionsmittel, Stauschlauch und Pflaster. Manche haben bunte Aufkleber auf ihr Schälchen geklebt. Einige Minuten braucht jeder im Applikationsraum – je nachdem, wie gut die Venen sind. In der Ambulanz aber verbringen die meisten Stunden. „Patrida“ steht auf dem Praxisschild. Das ist Griechisch für „Heimat“.

„Die Atmosphäre ist Teil des Behandlungskonzepts“, erklärt Peschel. Der Aufenthaltsraum ist das Herzstück der Ambulanz. Hier sind die Wände pastellfarben, im Fenster stehen Orchideen in pinkfarbenen Töpfen und ein Schachspiel. Die Patienten haben Bücher und Zeitschriften mitgebracht. Im Radio laufen Songs aus den Achtzigern, und in der Küche steht eine Thermoskanne mit Tee. „Bitte so lieb sein und Geschirr abräumen“, hat jemand mit der Hand auf ein Schild geschrieben, die i-Punkte sind kleine Herzen.

Zurückgelehnt in einem der Schwingsessel sitzt Luis*, die Augen halb geschlossen. Das Gesicht des 36-Jährigen ist eingefallen. Er spricht undeutlich, seine Zahnprothese hat er nach einem Druck in einer City-Toilette liegen gelassen. Luis nimmt seit 20 Jahren Drogen. Als er vor knapp drei Wochen zum Aufnahmegespräch kam, hatte er zwei Monate nicht geduscht, lebte seit acht Jahren auf der Straße und brauchte täglich bis zu 200 Euro für Heroin. Jetzt sind das dunkle Haar und der Bart sorgfältig gestutzt, er trägt einen grauen Sweater zur Jeans.

Ich habe nur darauf gewartet, dass sie hier aufmachen. Ich wollte schon lange raus aus der Szene, ich hatte einfach keine Kraft mehr dafür. Seit 17 Tagen bin ich jetzt hier, kriege mein Dope jeden Tag. Das, was wir hier kriegen, wirkt stärker als das gestreckte Zeug von der Straße. Da bin ich aufgefüllt, brauche nichts anderes mehr. Keine einzige Straftat habe ich seitdem mehr begangen. Es ist alles noch sehr frisch, ich bin noch etwas vernebelt. 20 Jahre Drogen. Ich brauche Zeit, um runterzukommen. Die meiste Zeit bin ich einfach nur hier, um mich auszuruhen.

53 Patienten behandeln Peschel und seine Kollegen täglich mit Diamorphin, jede Woche kommen zwei neue dazu. Die Ambulanz ist zwölf Stunden geöffnet, jeden Tag. Auch am Wochenende, auch an Weihnachten. Die meisten kommen zweimal am Tag, morgens und abends. „Aber gerade am Anfang bleiben die Patienten den ganzen Tag hier, die haben ja draußen sonst nur die Szene“, sagt Peschel.

Wer aufgenommen werden will, muss mindestens 23 sein, seit fünf oder mehr Jahren an der Nadel hängen, zwei Therapien erfolglos abgebrochen und sechs Monate mit Methadon oder einem anderen Stoff substituiert haben, außerdem unter körperlichen und seelischen Schäden leiden. Die körperliche Seite ist das eine: Viele der Patienten sind mit Hepatitis oder HIV infiziert, haben offene Wunden und Entzündungen, sind anfangs ausgemergelt und ungepflegt. „Aber das ist nicht das Heroin“, sagt Peschel. Heroin selbst sei viel weniger toxisch als Alkohol oder Nikotin. Aber der Stoff von der Straße enthalte nur 5 bis 7 Prozent Heroin – der Rest seien Streckmittel wie Backpulver oder Paracetamol. Dazu kommen unsterile Spritzen – und der Beschaffungsdruck, die Kriminalisierung.

Andreas* sitzt in der Raucherkabine, hager, aber kräftig. Er ist 39, hat die braunen Haare zum Zopf gebunden. Eine dicke Silberkette baumelt über dem gelben Sweatshirt, seine Hände und Arme sind voller Tattoos. Andreas spritzt seit 26 Jahren Heroin, er hat insgesamt 15 Jahre im Gefängnis verbracht.

Normalerweise wäre ich raus aus dem Knast, meine Klamotten irgendwo am Bahnhof in ein Schließfach gepackt und dann los und Dope besorgen. Ich hatte keinen anderen Plan. Das war immer mein Plan. Heroin ist das, was mir hilft klarzukommen, seit ich 13 bin. Und dann hat Dr. Peschel gesagt: Kommen Sie mal nach ihrer Entlassung zu uns. Das war am 27. November, und ich habe sofort gemerkt, es ändert sich was. Alles, was ich jetzt erreicht habe, wäre vor drei Monaten nicht möglich gewesen, so krank wie ich war.“

Nach einem kurzen Schwatz auf dem Flur geht Andreas in den Applikationsraum und injiziert sich seine Abendration. Dann muss er noch mal zur Arbeit: Seit ein paar Wochen hat er einen Minijob. Und vergangene Woche konnte er den Mietvertrag für die erste eigene Wohnung seit Jahren unterschreiben. „Das ist schon ein besonders glücklicher Fall“, meint Peschel. Aber alle seiner Patienten würden gesünder, achteten mehr auf sich, interessierten sich wieder für das Leben. „Ich habe noch nie eine Therapie erlebt, die so effektiv ist“, sagt der Arzt zu seiner eigenen Motivation. Kein einziger Patient habe die Behandlung abgebrochen.

Da machen sich ein paar Süchtige auf Staatskosten ein berauschtes Leben – solche Vorbehalte kennt auch Peschel. „Die Patienten, die zu mir kommen, nehmen Heroin nicht, weil es so kickt“, sagt er. Das sei nur bei seelisch gesunden Menschen so, anderen helfe die Droge erst einmal auf ein „normales Level“. Deshalb spricht der Psychiater Peschel auch nicht von Abhängigen, sondern davon, dass seine Patienten aufgrund massiver psychischer Vorschädigungen auf Diamorphin angewiesen sind. Bei ihrem Heroinkonsum handelt es sich quasi um eine Selbstmedikation.

Klaudia* ist 42, dunkelblonde lange Haare über dem Strickpulli. Sie sitzt im Kreativraum der Ambulanz und malt an einem filigranen Bild. Wenn sie spricht, schnell und etwas aufgeregt, wirkt sie fast mädchenhaft. Seit September ist sie bei Patrida.

„Das Warum ist schwierig, sehr komplex. Ich hab schon früh mit den Drogen angefangen. Tabletten und Kiffen und so, schon mit zwölf oder dreizehn. Und Alkohol auch, ja. Ich wollte die Albträume weghaben, die Ängste. Ich wurde als Kind schwer misshandelt, oft verprügelt, eingesperrt. So mit Anfang 20 hab ich mit allem aufgehört, war elf Jahre lang clean. Dann hat mich mit Anfang 30 mein Partner verlassen, da kam alles wieder hoch. Meine Kindheit ist ein dunkler Block, an den ich nicht gern denke, der sehr wehtut. Heroin war ein altbewährtes Mittel gegen die Verzweiflung, um den Kopf zuzumachen, um dichtzumachen.“

Dass die Sucht bei Schwerstabhängigen immer psychische Ursachen hat, davon ist auch Chaim Jellinek überzeugt. „Bei uns landen die mit der schwersten Kindheit“, sagt der Allgemeinmediziner, der seit fast 20 Jahren in der Substitutionsbehandlung arbeitet und seit 2000 eine Praxis in Neukölln betreibt. Ein bäriger Typ, langer, weißer Bart und Schiebermütze. 250 Patienten kommen täglich, um sich ihr Methadon zu holen: Tabletten, die durch ein Fenster am Tresen gereicht und sofort hinuntergespült werden müssen. Bei Jellinek stranden die desolatesten Fälle – Süchtige, die aus anderen Therapien rausgeflogen sind, wegen Gewaltandrohung oder fortgesetzten Konsums. Auch die Hälfte seiner Patienten kommt mit Methadon allein nicht aus.

„Es gibt nicht die eine richtige Therapie“, sagt Jellinek. Die Diskussion sei viel zu substanzbezogen, die Politiker seien „zu hysterisch gegenüber Opiaten“. Dass trotz der hohen Sicherheitshürden und des Imageproblems jemand den Mut gehabt hat, in Berlin eine Ambulanz zur heroingestützten Behandlung aufzumachen, sei ein wichtiger Schritt, um jedem Patienten anbieten zu können, was er braucht. „Mit Peschel halte ich Berlin für den Ort, der sich die meiste Mühe gibt, mit Spritzdrogenabhängigen würdig umzugehen“, sagt Jellinek.

Zwei neue Patienten nimmt Peschel zurzeit pro Woche auf. Die Warteliste ist bis Sommer gefüllt und die Kapazität der Ambulanz damit fast erschöpft. „Viel mehr als hundert Patienten können wir nicht behandeln“, sagt Peschel. Die Landesdrogenbeauftragte schätzt den Bedarf auf bis zu 300 Patienten. Aber bevor eine neue Praxis zugelassen wird, wollen die Politiker erst einmal die Evaluierung durch die Charité und die tatsächlichen Auswirkungen der Diamorphinambulanz abwarten.

Am Ende kann auch hier finanzpolitischer Druck zu Behandlungsgerechtigkeit führen: Rund 40 Euro kostet die Behandlung mit Heroin täglich. Ein Tag in einem Berliner Gefängnis kostet den Staat mehr als 130 Euro.

*Namen aller Patienten geändert

Ausführliche Erlebnisberichte unter taz.de/berlin