piwik no script img

Archiv-Artikel

Die verbogene Partei

Der Sieg des SPD-Vorsitzenden ist die Niederlage seiner Partei

VON FELIX DACHSEL

Es gibt zwei Arten, Politik zu beobachten. Die eine ähnelt dem, was ein Sportreporter macht: Am Spielfeldrand sitzend, betrachtet er das Geschehen aus sicherer Halbdistanz und identifiziert Sieger und Verlierer. In Deutschland ist das sehr verbreitet, im Journalismus sowieso.

Die andere Art der Beobachtung verfolgt nicht Personen, sondern Ideen. Bei dieser Sicht ist der Sieg nicht dann erreicht, wenn eine Person etwas geschafft hat, sondern wenn sich eine Idee durchsetzt.

Was bei der ersten Betrachtungsweise nach einem Sieg aussieht, kann in Wahrheit eine Niederlage sein. Die Niederlage einer Idee.

Für jene, für die Politik vor allem ein Wettkampf von Personen ist, gibt es im Moment einen klaren Gewinner auf dem Berliner Parkett: Er heißt Sigmar Gabriel und ist Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.

Wenn sich die SPD an diesem Wochenende zu ihrem außerordentlichen Bundesparteitag trifft, dann kann Gabriel mit dem Selbstbewusstsein eines Mannes anreisen, dem es gelungen ist, einen Abstiegskandidaten, denn das ist die Partei, als Sieger zu präsentieren: gewonnenes Mitgliedervotum, erfolgreiche Koalitionsverhandlungen, Regierungsbeteiligung. Wäre die SPD ein Verein zur Befriedigung ihres Vorsitzenden, dann hätte dieser Verein seinen Zweck in den letzten Wochen erfüllt.

Doch: Der Triumph des Vorsitzenden ist eine Niederlage der Partei. Die SPD ist noch immer in der Krise, in die Gerhard Schröder sie mit seiner Agenda-Politik gestürzt hat. Sie ist noch immer eine verbogene Partei. Und die Beteiligung an der Großen Koalition wird daran nichts ändern. Im Gegenteil.

Wer das Schicksal der Partei nicht mit dem Blick eines Sportreporters betrachtet, also nicht als Abfolge von Siegen und Niederlagen einzelner Personen, sondern den großen Linien folgt, den Ideen, der erkennt schnell, dass die SPD in der Vergangenheit lebt: Die Identitätsfragen werden auf Gestern verschoben.

Das hat das vergangene Jahr gezeigt. Erst wurde der 150. Geburtstag der Partei gefeiert, dann der 100. Geburtstag Willy Brandts. Brandt musste für alles herhalten, sogar für die Richtigkeit einer Koalition mit Angela Merkel. Er wurde zum Konfuzius der Partei. Zum Glückskeks-Willy. 2013 machte die SPD einen kollektiven Ausflug ins Museum. Volle Fahrt zurück.

Man kann das als Beweis für die Strahlkraft Willy Brandts werten. Oder dafür, dass sich die Partei unwohl in der Gegenwart fühlt und Angst vor der Zukunft hat.

Noch immer hat die Partei keine Idee entwickelt, wie sie jene Millionen von Wählern zurückzuholen will, die seit 1998 hauptsächlich nach links oder ins Lager der Nichtwähler abgewandert sind. Diese Wähler werden sich kaum von guten Kompromissen mit Angela Merkel überzeugen lassen oder von hart erkämpften Teilerfolgen in der Großen Koalition. Sie werden nicht zurückgeholt von ein bisschen mehr Gerechtigkeit in der Rente, nicht von einem verspäteten Mindestlohn mit Ausnahmen, nicht von ein wenig mehr Regulierung der Banken, nicht von einer kleinen Energiewende, nicht von einer leicht verbesserten Europapolitik und auch nicht von ein bisschen Protest gegen die Überwachungsmethoden amerikanischer Geheimdienste. Sie werden nur zurückgeholt von einer selbstbewussten linken Partei mit Profil, die ihre Ideen nicht verrät.

Dieses Profil fehlt der SPD nach wie vor und es wird sich in der Großen Koalition kaum schärfen lassen. Da sitzen die SPDler an einem Tisch mit einer Partei, der CSU, die mit ausländerfeindlichen Parolen Stimmung gegen Einwanderer macht, und einer anderen Partei, der CDU, die langsam und beharrlich einen gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohn aushöhlen will, bis er kein gesetzlicher und flächendeckender Mindestlohn mehr ist. Mag die CDU unter Angela Merkel noch so profillos sein, noch so ausgeblutet und charakterlos, sie hat doch genügend Kraft, um alles, was nach einem Erfolg der SPD aussehen könnte, kleinzureden. Profillosigkeit kann auch ansteckend sein: Die CDU unter Angela Merkel verbreitet diesen Virus – die SPD ist schon infiziert.

Die Frage ist, wie die SPD Profil gewinnen kann in einer Zeit, in der Politik so spektakulär langweilig geworden ist, so technisch und grau. Nur eingefleischte Fans werden Spaß daran haben, Merkel und Gabriel interessiert dabei zu beobachten, wie sie über den kleinen Parcours von Rente, Pflege und Mindestlohn traben. Dabei weitgehend unbehelligt von einer Opposition. Abseits der großen Fronten. Fernab von echtem Streit.

Sicher: Politik ist Klein-Klein, Politik heißt Kompromiss und Politik heißt auch manchmal Langeweile. Ball vor, Ball zurück. Das alles ist notwendig, um Größeres anzustreben. Das Problem ist nur: Im Moment ist das Große nicht sichtbar. Sigmar Gabriel nennt diese Regierung eine „Koalition der kleinen Leute“. In Wahrheit jedoch regiert die SPD in einer Koalition des kleinen Denkens.

Es ist fast untergegangen, dass es der SPD nicht gelungen ist, eines der wichtigsten Anliegen des Wahlkampfs, und damit ein Versprechen an ihre Wähler, in den Koalitionsvertrag zu schreiben: eine gerechtere Steuerpolitik. Ebenso ist untergegangen, dass die Parteiführung in nächtlichen Verhandlungsrunden ohne Not ein sehr sozialdemokratisches Ziel aufgegeben hat: mehr Geld für die Entwicklungspolitik. Auch das hatte man im Wahlprogramm versprochen. Der entwicklungspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion hat deswegen aus Protest sein Amt niedergelegt. Das sind nur zwei Beispiele, wie Erfolge von Personen manchmal Niederlagen von Ideen bedeuten.

Es wird in den kommenden vier Jahren ein Duell geben müssen: die große Idee der sozialen Demokratie gegen das Kleingedruckte im Koalitionsvertrag. Manchmal wird das auch bedeuten: Parteibasis gegen Parteiführung. Die Schröder-Jahre haben gezeigt, wie mit dem Argument von Regierungsverbindlichkeiten eine Basis überrannt werden kann. Das darf sich nicht wiederholen.

Die Partei wird sich das Recht erkämpfen müssen, trotz Regierungsverantwortung die großen Fragen zu diskutieren: Wo steht die SPD? Ist sie eine Partei, die nur die groben Reparaturarbeiten übernimmt in einer vom Kapitalismus angefressenen Demokratie? Oder eine Partei, die eine anderes Gesellschaftsmodell entwirft und mehrheitsfähig macht?

Das wäre ein Schritt in die Gegenwart. Wenn der gemacht ist, warten die Fragen der Zukunft.