Fluchtpunkt Bett

Toller Sound, triviale Story, melancholische Männerfantasie: Peter Stamms neuer Roman „An einem Tag wie diesem“

von OLIVER PFOHLMANN

Melancholiker sehen im Leben wenig mehr als einen Prozess der Erkaltung, Erstarrung, Ernüchterung. Die große Liebe etwa. Sie gibt es, belehrt einen regelmäßig die Literatur, nur einmal, und meist ist es die erste. Was immer folgen mag, trägt die Stempel „Kenn ich schon“ und „Kontingenz“. Wer will, kann in dieser Erkenntnis heimisch werden. Kann sich in ein Programm der Selbstbeschränkung, der Verweigerung flüchten, kann gar einer Philosophie des Zufalls anhängen. Wie Andreas, der Protagonist von Peter Stamms neuem Roman „An einem Tag wie diesem“. Der allein stehende Schweizer Lehrer, der sich vor der Liebe ausgerechnet in Paris versteckt hält, erduldet dort die Jours fixes mit seinen beiden sich abwechselnden, nun ja, Geliebten. Und findet Trost in Tagträumen, in denen er sich in andere, meist noch deprimierendere Lebensläufe hineinfantasiert; nachts im Stand-by-Leuchten des Fernsehers.

Die Leere“, heißt es gleich zu Beginn, „war sein Leben, waren die achtzehn Jahre, die er in dieser Stadt verbracht hatte, ohne dass sich etwas verändert hatte, ohne dass er sich eine Veränderung wünschte.“ Ein tristes, ein unbegreifliches Leben. Am liebsten würde man ihn kräftig schütteln, damit er aufwacht. Lange hält dieses Bedürfnis nicht an. Zu den Geheimnissen von Stamms Erzählkunst gehört, dass man sich schnell in seinen Figuren erschrocken wiederzuerkennen glaubt.

Versehrte und Desillusionierte bevölkern die traurig-schönen Geschichten des Schweizer Erzählers, deren literarische Abstammung bis Tschechow reicht. Überraschende Annäherungen quittieren diese Figuren mit einem Schritt zurück. „Eigentlich würde ich gern mit dir schlafen“, heißt es einmal in dem Erzählband „Blitzeis“ (1999). „Aber nur, wenn du mir versprichst, dich nicht wieder in mich zu verlieben.“ Manchmal wagen sie doch den Ausbruch aus der Tristesse, ohne zu wissen, warum. So wie Kathrine in Stamms Roman „Ungefähre Landschaft“ (2001), die sich auf dem Weg zur Arbeit plötzlich ein Zimmer nimmt und von dort auf die verschneite Straße schaut, als wartete sie ungläubig auf sich selbst.

Auch Andreas quartiert sich eines Tages in einem Hotelzimmer ein. Kappt all seine eh schon spärlichen sozialen Bindungen, in der Hoffnung, der Prozess der Vereisung ließe sich doch noch umkehren. „Die Gleichheit seiner Tage war sein einziger Halt gewesen. Ohne Stelle, ohne Wohnung, ohne Stundenpläne, die regelmäßigen Treffen mit seinen Geliebten und seinen Freunden war er nur noch ein Punkt in einer bedrohlich leeren Landschaft.“

Am Ende wird er mit Delphine, seiner jungen Kollegin mit dem sprechenden Namen, an der Atlantikküste stehen und sich wie sie im Spiel der Wellen verlieren. Wasser in all seinen Aggregatzuständen ist der wichtigste Symbolspender im Werk Stamms. Sein dritter Roman ist die Geschichte eines Menschen, der versucht, einen vor langer Zeit begangenen Fehler wieder gutzumachen. Auslöser ist ein banaler Liebesroman für den Deutschunterricht. Seine Lektüre raubt Andreas jene besinnungslose Zufriedenheit, zu der ihm bis dahin sein ausgeklügelt abwechslungsloses Singledasein verhalf. Denn diese Geschichte gleicht verblüffend seiner eigenen, die er erfolgreich verdrängt hatte. In seiner Jugend war er in Fabienne verliebt, ein französisches Au-pair-Mädchen in seinem Schweizer Heimatdorf. Zu mehr als einem spontanen Kuss hatte damals sein Mut nicht gereicht, und so heiratete Fabienne Andreas’ Freund Manuel. Die alte Geschichte also. Als dann bei ihm der Verdacht auf eine Krebserkrankung hinzukommt, fasst sich Andreas endlich ein Herz. Er kehrt mit Delphine in die Schweiz zurück, um Jahrzehnte später von Fabienne eine Antwort zu erhalten.

Wieder eine berührende Geschichte von diesem Meister ökonomischen Erzählens, ein Buch, das man gern, streckenweise atemlos liest. Gegenüber seinen früheren Romanen fällt es aber ab. Warum? Gewiss nicht wegen der Sprache. Stamms Sound klingt auch hier mit der bekannt kristallenen Klarheit. Die schmucklos-lakonischen, süchtig machenden Sätze trugen bislang zuverlässig dazu bei, die für die Kunst nötige Sentimentalitätsferne zu sichern. Eher schon liegt es daran, dass Andreas jene beunruhigende Offenheit fehlt, die Stamms frühere Protagonisten auszeichnete. Andreas ist psychologisch transparenter als Kathrine in „Ungefähre Landschaft“. Und es liegt an der wohl beabsichtigten Banalität des Plots. Die triviale Story, in der sich der Protagonist wiedererkennt, erweist sich am Ende für Stamms Roman als zu infektiös. Ein Buch, bei dem der Protagonist mit fast jeder Frau, die ihm begegnet, und sei es widerwillig, im Bett oder, wie bei Fabienne, auf der Aufsichtsplattform landet, kann man nur als Männerfantasie bezeichnen. Meinetwegen als eine melancholische.

Peter Stamm: „An einem Tag wie diesem“. S. Fischer, Frankfurt am Main 2006, 208 Seiten, 16,90 Euro