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Archiv-Artikel

We are family?

Der New Yorker Aids-Aktivist Larry Kramer findet, dass Schwule Mörder sind. Und bekommt Beifall aus den eigenen Reihen

VON PETER REHBERG

Larry Kramer hat seinen Zuhörern gerade gesagt, dass er sie für Mörder hält. Es sollten seine letzten Worte zum Thema Aids sein, so hatte er es angekündigt. Die schwulen Männer in der Aula von Cooper Union standen nach und nach auf und er bekam Standing Ovations. Ein Großteil der Besucher bedankte sich für die Publikumsbeschimpfung: Für sie ist Kramer der Held der amerikanischen Homobewegung. Denn die gleiche Wut im Bauch, mit der er gerade gegen steigende HIV-Neuinfektionen wetterte, war für ihn Ende der 80er-Jahre der Antrieb gewesen, um zusammen mit Freunden „Act Up“ zu gründen – die erfolgreichste und spektakulärste Aids-Organisation der Welt.

Bei so genannten Die-Ins harrten damals Hunderte bewegungslos auf dem Asphalt aus und legten so die Straßenkreuzungen Manhattans lahm. Künstlerkollektive plakatierten die Stadt mit Bildern küssender Männerpaare, und die Treffen im „Gay and Lesbian Community Center“ waren the place to be – cooler als jeder Nightclub in Manhattan. Kramer war damals der Mittelpunkt dieser Szene. So ein Typ, wie Rosa von Praunheim es auch immer gern sein wollte: radikal in seinen politischen Ansichten, militant in seinen Aktionen und obendrein ein Künstler.

Aber wie von Praunheim ist auch Kramer eine streitbare Figur und die andere Hälfte seines Publikums hielt ihn, bei seinem letzten öffentlichen Auftritt – nett gesagt – für einen komischen alten Kauz. Wenn man New Yorker Schwule auf Kramer anspricht, bekommt man als Antwort nicht selten ein Seufzen zu hören, begleitet von der Bitte, das Thema zu wechseln.

Im Manhattan von heute, wo das Leben wenig mit Politik und viel mit Lifestyle zu tun hat, wirkt Kramer, 70, inzwischen wie ein Dinosaurier. Er wohnt am unteren Ende der 5th Avenue, gleich an der Ecke zum Washington Square Park. Nirgendwo sieht Manhattan europäischer aus. Nicht nur wegen der Kopie des Pariser Triumphbogens, die den Platz dominiert, sondern auch wegen der vielen internationalen Studenten der nahe gelegenen New York University. Die Szenerie ist von Kramers Apartment im 2. Stock aus gut zu überblicken. Alles in seinem Wohnzimmer ist weiß: die Regale, der Apple-Computer und Tiger, sein Hund.

Kramer sitzt mit seinem Schoßhündchen auf dem Sofa. In seiner Latzhose und mit der bunten Holzperlenkette, die er um sein linkes Handgelenk geschlungen hat, sieht er aus wie ein Hippie-Opa. Drollig und ein bisschen versponnen. Doch durch seine Brillengläser, die seine Augen vergrößern, guckt er sehr aufmerksam, vielleicht sogar lauernd. Tiger kläfft. Kramer ermahnt den Hund und lacht. Es liegt Spannung in der Luft. Kramer musste zum Interview überredet werden. Es könnte jeden Moment wieder vorbei sein, durchaus nicht nur, weil er vielleicht keine Kraft mehr hat.

„Für ein Land, dass so viele Schwule und Lesben hat wie die Vereinigten Staaten, sind wir in einem fürchterlichen Zustand“, beginnt Kramer leise, so als fehlte ihm die Energie, noch einmal die Geschichte der neueren amerikanischen Homobewegung zu erzählen. „Damals in den 80ern haben wir uns zusammengetan mit unseren Aids-Organisationen. Aber dann haben wir die Medikamente bekommen, und die Organisationen wurden weniger nützlich und verloren an Macht.“

Trotz aller Mythen ist „Act Up“ für Kramer keine Erfolgsgeschichte, sondern ein Beispiel dafür, dass Schwule und Lesben noch nie in der Lage waren, sich wirklich für ihre Rechte einzusetzen: „Die Leute kämpfen nicht, ich habe keine Ahnung, warum nicht. Auf dem Höhepunkt von Aids, als wir gestorben sind wie die Fliegen, können es nicht mehr als zehntausend gewesen sein, die sich engagiert haben. In einem Land von, wer weiß, fünf, sechs, sieben Millionen.“

Man kann die Schwulen in Manhattan irgendwie verstehen, die keine Lust mehr haben, ihm zuzuhören, wenn er über die Vergangenheit klagt und wie Kassandra vor der Zukunft warnt. Aber die Lage in den Vereinigten Staaten scheint Kramers düsterer Analyse durchaus Recht zu geben. Anders als in Europa ist in den USA eine Homoehe auf nationaler Ebene überhaupt nicht in Reichweite. Im Gegenteil: Schon wieder versuchen die Republikaner per Verfassungsänderung ein Verbot der Homoehe zu installieren, um damit Stimmung für die Kongresswahlen im November zu machen. Gleichzeitig droht den Schwulen Gefahr von ganz anderer Seite: Wie auch in Deutschland nehmen seit einiger Zeit die Infektionszahlen bei HIV wieder zu.

HIV und Aids waren die Schwerpunkte von Kramers Rede „The Tragedy of Today’s Gays“ vor eineinhalb Jahren in der berühmten Aula von Cooper Union, wo auch schon Abraham Lincoln gesprochen hat. Der Vortrag ist inzwischen auch in Buchform erschienen. „Es ist kein sehr hoffnungsvolles Buch“, sagt Kramer. Aber in dem Essay verwandelt er seine Niedergeschlagenheit in eine messerscharfe Rhetorik: „Von dem Moment an, als wir wussten, es gibt einen Virus, und wir infizieren uns gegenseitig damit, waren wir nicht länger unschuldig. Wir sind zu unseren eigenen Mördern geworden“, wiederholt er seine Anklage.

Von Anfang an hat Kramer die Aids-Krise als Holocaust bezeichnet („Reports from the Holocaust: The Making of an Aids-Activist“), und diese drastische Ausdrucksweise hat er bis heute nicht aufgegeben: „Es gab einen Virus, der Aids verursacht, und wir haben uns gegenseitig damit infiziert“, sagt er zunächst ganz nüchtern. Aber Aids bleibt sein Reizthema und auf einmal verliert er jede Gelassenheit und fängt an zu schreien: „Es ist eine Tatsache! Eine medizinische Tatsache!“

Kramer verstummt. Es sieht so aus, als erschrecke er einen Moment lang selber über seinen Emotionsausbruch. Als er sich wieder beruhigt hat, fügt er hinzu: „Wissen sie, ich habe den Glauben verloren, dass wir eine Gemeinschaft sein können.“ Denn eigentlich trauert Kramer dem alten Traum hinterher, dass Schwule und Lesben so etwas wie eine große Familie sein könnten. „Wir sind besser und sensibler und liebevoller miteinander als heterosexuelle Leute.“ Er wirkt wie ein gütiger, etwas müder Vater, wenn er das sagt. „Du kannst deine Kinder sehr lieben und von ihrer Unfähigkeit, reif und erwachsen zu werden, sehr enttäuscht sein.“

Einerseits ist bei Kramer von Liebe die Rede, andererseits sind Schwule Mörder. Der alternde Aids-Aktivist ist auch eine Drama-Queen: „Das Tragische ist, uns fehlt der nächste Schritt. Wie ich diesen Teil von mir nehme und daraus etwas Kraftvolles mache. Es fehlt uns der Mut, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht sind wir aus gutem Grund so ängstlich. Und es ist hart, dein Leben zu leben, wenn du ängstlich bist.“

Deshalb glaubt Kramer, man brauche schwule Helden. Einer dieser Helden ist für ihn Abraham Lincoln, der während des amerikanischen Bürgerkrieges Präsident der USA war und die Befreiung von der Sklaverei durchgesetzt hat. C. A. Tripps, der als Professor für Psychiatrie auch eng mit Alfred Kinsey zusammenarbeitete, hat in seinem Buch „The Intimate World of Abaraham Lincoln“ mit Hilfe von zeitgenössischen Quellen die These aufgestellt, dass Lincoln schwul gewesen sei. „Abraham Lincoln war schwul. Das hatte einen Einfluss auf die Geschichte unseres Landes“, sagt Kramer triumphierend. Kramers Vermächtnis soll eine Geschichte der USA sein, die diese Momente nicht verschweigt. Titel: „The American People“.

„Tausendfünfhundert Seiten sind schon dahinten auf meinem Schreibtisch. Ich schreibe morgens, mittags, nachts, sieben Tage die Woche. Das ist hart. Wie lange habe ich noch meine Intelligenz und mein Gedächtnis?“ Dann lacht er zum ersten Mal in diesem Gespräch und sagt: „Aber ich habe schon so ziemlich alles im Kopf.“

Kramer fordert, dass auch an den Universitäten Geschichte gelehrt wird, ohne Lesben und Schwule zu übergehen. Er will das alte, identitätsstiftende Programm: „Wer wir waren, wo wir waren, was wir getan haben.“ Kramer, der aus einer wohlhabenden jüdischen Ostküsten-Familie stammt, stellte der Eliteuniversität Yale Geld zur Verfügung, um eine dauerhafte Professur für Gay and Lesbian Studies einzurichten. Wegen eines Streits darüber, was dort unterrichtet werden soll, kam es nicht dazu.

Kramer argumentiert wie ein 70er-Jahre-Feminist: Schwule Identität und ihre Geschichte seien von postmodernen Theorien relativiert worden. „Gender Studies and Queer Theory haben alles übernommen. Das sind feel-good-subjects“, polemisiert er etwas überraschend, indem er die Befragung von Identitäten, wie sie etwa von Judith Butler betrieben wird, als ihr Feiern versteht, „dieses ganze Warum-bin-ich-schwul-Blablabla“, sagt er. Wenn Abraham Lincoln sein Held ist, dann ist der französische Philosoph Michel Foucault sein Anti-Held. „Er redete immer nur über S/M, Gefängnisse und so ein Larifari. Dadurch erfahre ich nicht, dass dieses Land ein besserer Platz geworden ist, weil Abraham Lincoln schwul war. Und das hat nichts damit zu tun, dass Michel Foucault in eine Lederbar geht und entdeckt, dass S/M ihn anturnt.“

Theorien, die Sexualität als einen Schauplatz von Macht verstehen, hält er für unwichtig. Er glaubt nicht, dass Sexualität vom Unbewussten beeinflusst wird. Das könnte man ihm als theoretische Kurzsichtigkeit vorwerfen, aber Kramer ist nun mal ein Aktivist, der Aussagen nach ihrer Wirkung bewertet. „Das wird alles viel zu sehr als Entschuldigung benutzt. Drogen machen Sexualität vielleicht zu einer unbewussten Sache“, sagt er, „Chrystal Meth und all das.“ Die Partydroge Chrystal Meth gilt in den USA als einer der Faktoren, der für steigende Infektionszahlen bei HIV sorgt. Auf eine Debatte, wie unter solchen Bedingungen eine wirksame Prävention aussehen könnte, will sich Kramer aber gar nicht erst einlassen. „Was sollst du schon tun? Du fickst niemanden ohne Kondom. Was sonst?“ Er schreit schon wieder.

Klingt so, als wären dies wirklich seine letzten Worte zum Thema Aids. „Verhalten ist eine persönliche Angelegenheit, die man nicht durch Gesetzgebung ändern kann“, sagt er im nächsten Moment. „Was sollten wir dagegen tun? Mit einer Pistole herumlaufen und alle überwachen?“ Innerhalb von Sekunden schlägt seine Wut wieder in Niedergeschlagenheit um. Es gibt kein eindeutiges Feindbild, gegen das sie sich wenden kann. Und auf einmal wird klar, dass Kramer sich ohnmächtig fühlt, weil seine scharfen Worte sich auch immer gegen ihn selbst richten.

PETER REHBERG, 39, arbeitet als freier Autor und als Kulturredakteur für Berlins schwullesbisches Stadtmagazin „Siegessäule“. Zuletzt erschienen ist von ihm der Roman „Fag Love“, MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 2005, 220 Seiten, 17 Euro