piwik no script img

Archiv-Artikel

Liebe ohne niedere Absichten

My House Is Your House – Labels in Berlin (X): Die Hochzeit von Low Spirit ist vorbei, ans Aufhören denkt trotzdem niemand. Zeremonienmeister WestBam macht halt weiter DJ-Musik, das wirklich Neue kann er aber auch nicht sehen

VON SASCHA JOSUWEIT

Die Low Spirit Recordings GmbH residiert in einer angenehm unprätentiösen Altbausuite im bürgerlichen Charlottenburg. Unten im Haus eine Pizzeria, eine Änderungsschneiderei und ein Tauchgeschäft. Die soignierte Dame aus dem ersten Stock grüßt freundlich, als ich die trittschallgedämpften Stufen nehme. „Klaus Jankuhn, Wilhelm Röttger, Lenz – Homebase“ steht an der Türklingel, die Tür ist offen.

Low Spirit zählt zu den Sauriern unter den Dance-Labels. Rund 20 Jahre Musikgeschichte hat das Label in vorderster Reihe mitgeprägt. Anders als die Großechsen hat es sein Erdmittelalter überlebt und sich mehr als einmal neu erfunden. Heute steht man, der plattenindustriellen Baisse wegen, zwar nicht besser, aber gelassener da denn je. Gerade wurden mit dem „Mayday-Worldclub“-Sampler fünfzehn Jahre Großrave abgefeiert. Die neue Loveparade-Compilation „The Love Is Back“ mit WestBams Hymne „United States Of Love“ ist pünktlich zur Parade erschienen. Und Labelchef Maximilian Lenz aka WestBam ist ganz bei sich angekommen.

Seine Tante, sagt er, nennt ihn einen „Zärgerbold“. Jemand, der seine Mitmenschen gerne ärgert. Das war aber auch ein Spaß, wenn er in der Rave-Anfangszeit bei Rockkonzerten seine minimale Hardcore-Elektronik auflegte oder zum Tanz die Viertel-Bassdrum erklingen ließ. Die Meute hätte ihn oft gern gelyncht. Und der Labelname „Low Spirit“, der „Niedergeschlagenheit“ bedeutet, nicht etwa „niedere Absicht“, wie WestBam betont, wollte gegen das hochenergetische, tolle Disco-Ding provozieren – als „Disco Riot“-Label, wie die Reihe auf Low Spirit damals hieß. Die soziale Relevanz, die die ravende Gesellschaft und WestBams Zärgertum mal hatten, ist zusammen mit den 90er-Jahren verschwunden. Für WestBam markiert der überraschende Tod des Techno-DJs Mark Spoon im Januar 2006 ein gefühltes Ende.

Low Spirit entstand aus der Not, antwortet WestBam auf die goldene Frage, wie alles anfing: Es gab für die aus dem Hiphop entlehnten, straff collagierten DJ-Tracks, an denen er mit seinem Schulfreund Jankuhn Mitte der 80er tüftelte, noch keine Lobby. Mit WestBams „Cabinet“, dem ersten DJ-Konzeptalbum aus Deutschland, und der „Members of Mayday“-Serie kam dann schnell der Erfolg, der durch Acts wie Marusha oder später Lexy & K-Paul und griffigen Technolectro-Sound auf dem Sublabel Electric Kingdom ausgebaut wurde.

Parallel dazu arbeitete WestBam selbst gegen die Festschreibungen des Dance-Genres: Er sampelte Gitarren- und Streichersounds, holte sich Nena und den Hiphopper Afrika Islam ins Studio und nahm am Vorentscheid für den Grand Prix d’Eurovision teil. Sein letztes Album „Do You Believe In The Westworld“ betourte er mit Band in Rockformation.

Darum, den für die Labelgeschichte so entscheidenden Vorsprung an Vorstellungskraft gegen Widerstände durchzusetzen, geht es ihm inzwischen nicht mehr. Auch nicht um einen Standort, weder in der Berliner Musikszene noch sonst wo. Er muss keinem mehr etwas beweisen, niemanden umwerben, keine Demos anhören. Für neue Veröffentlichungen greift man gern auf persönliche Kontakte zurück oder lässt hoffnungsvollen Nachwuchs, wie das frisch unter Vertrag genommene Computepop-Duo Beat Bandit aus Schweden, einfach an der langen Leine. Seine eigene Arbeit begreift WestBam heute nicht mehr als in die Welt posaunten Kommentar. Dennoch macht ihm die Studioarbeit und das DJing als Kunstform weiter Freude. Ist auch das einträglichere Geschäft: Verkaufte Low Spirit in tollen Tagen 200.000 Einheiten einer Platte, sind es heute selten noch 50.000. „Labelarbeit ist wieder Liebhaberei geworden“, sagt der Meister gelassen.

So schön klingt Altersweisheit nach einem Vierteljahrhundert im Geschäft. Und gibt es noch eine Idee, ein Konzept? „Heißt nach wie vor DJ-Musik. Bloß wie sich die ausdifferenziert und in der Wirklichkeit objektiviert, das verändert sich mit der Zeit.“ Und der alte Zeremonienmeister legt nach: „Die großen innovativen Formmodelle dazu“, sagt er ungerührt und irgendwie lächelnd, „sind alle schon Mitte der 90er durch gewesen. Albern zu sagen, da kommt jetzt noch was. Vielleicht lauert irgendwo schon das voraussetzungslos Neue, das nächste ganz große Ding. Wir können es nur noch nicht sehen.“

WestBam heute bei der Loveparade: auf dem „Electric Kingdom“-Wagen und um 22.20 Uhr an der Siegessäule, später in der Columbiahalle, mit Lexy & K-Paul, Woody, HardyHard u. a.