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Archiv-Artikel

Kiew: Präsidentenpartei will nicht mitregieren

Partei des ukrainischen Staatschefs Juschtschenko geht in die Opposition. Exregierungschefin Timoschenko pokert

BERLIN taz ■ Wenn man den jüngsten Verlautbarungen aus Kiew Glauben schenken darf, dann hat die Ukraine nach monatelangem Gerangel jetzt zumindest eine parlamentarische Opposition: die Partei Unsere Ukraine von Staatspräsident Wiktor Juschtschenko. „Von heute an befindet sich die Fraktion Unsere Ukraine offiziell in der Minderheit und damit in der Opposition“, sagte der Abgeordnete der Partei, Anatoli Kinach, gestern im Parlament. „Die Opposition muss eine Kontrollfunktion ausüben, die Macht muss kontrolliert werden, das heißt auch vonseiten der Gesellschaft.“

Die Partei Unsere Ukraine des einstigen Mitprotagonisten der Orangenen Revolution von 2004 und Siegers der Neuauflage der Stichwahl um das Präsidentenamt Wiktor Juschtschenko war bei den Parlamentswahlen im vergangenen März mit 13,9 Prozent nur auf dem dritten Platz gelandet. In der Folgezeit hatte es so ausgesehen, als könne eine Orangene Koalition aus Unsere Ukraine, der Partei von Expremierministerin Julia Timoschenko BJUT und den Sozialisten zustande kommen.

In der vergangenen Woche war dieser Traum ausgeträumt. Der Chef der Sozialisten Alexander Moroz gab die Bildung einer „Antikrisenkoalition“ bekannt, der neben den Sozialisten auch die Partei der Regionen des ehemaligen russophilen Regierungschefs und Wahlfälschers Wiktor Janukowitsch sowie die Kommunistische Partei angehören. Neben den Sozialisten waren dies ebenjene beiden Fraktionen, mit deren Stimmen Moroz zuvor zum Parlamentspräsidenten gewählt worden war. Gestern Vormittag bekräftigten die Koalitionäre die Bildung ihres „Antikrisenbündnisses“ und schlugen Wiktor Janukowitsch für den Posten des Regierungschefs vor.

Anders als Unsere Ukraine will sich die frühere Ministerpräsidentin Julia Timoschenko, deren Partei BJUT bei den Wahlen zweitstärkste Kraft geworden war, nicht mit der Oppositionsrolle abfinden. Gestern kündigte sie an, dass die Abgeordneten ihrer Fraktion bereit seien, das Mandat niederzulegen, um eine Parlamentsauflösung zu erzwingen. Anders könne „der Staatsstreich im Parlament“ nicht aufgehalten werden. „Die Antikrisenkoalition ist illegitim – sowohl vom politischen als auch vom rechtlichen und moralischen Standpunkt aus“, sagte sie.

In den frühen Morgenstunden hatten gestern mehrere tausend ihrer Anhänger die Eingänge zum Parlament blockiert und sich mit einer gleichen Anzahl von Janukowitsch-Unterstützern Schlägereien geliefert. Gleichzeitig hatte die aus der orangenen Jugendprotestbewegung Pora hervorgegangene gleichnamige Bürgerpartei am Parlament eine Protestaktion gestartet. „Unser Ziel ist es, die Koalition der Verräter, Separatisten und Kommunisten, die die demokratischen Prozesse in der Ukraine und ihren Weg nach Europa stoppen wollen, nicht durchzulassen“, sagte Ewgenij Solotarew, einer der Pora-Chefs.

Doch selbst wenn die „Antikrisenkoalition“ jetzt stehen sollte, bleibt immer noch eine große Unbekannte: Staatspräsident Wiktor Juschtschenko. Der hat laut Verfassung 15 Tage Zeit, um die Kandidatur für den Posten des Premiers zu begutachten und dann an das Parlament zwecks Abstimmung zurückzuweisen. Unklar ist, ob Juschtschenko eine Kandidatur auch ablehnen kann.

„Schuld an diesem Chaos ist die ukrainische politische Spitze“, schreibt die Journalistin Julia Mostowaja in der jüngsten Ausgabe der Wochenzeitung Zerkalo Nedeli. „Ich vermeide den Begriff Elite, denn das setzte bei ihren Mitgliedern die Existenz von Verantwortungsbewusstsein, einer klaren Vorstellung von nationalen Interessen, Prinzipien, hohen moralischen Grenzen und Intellekt voraus – eines politischen IQ.“ BARBARA OERTEL