Reiz des Indirekten

Ich sehe was, was du auch siehst (4): Eine Sommerserie über selbstverständliche Dinge des Alltags – der Spiegel

Der Spiegel ist ein Zauber und ein Problem – seit dem Mythos von Narziss, den Ovid in seinen Metamorphosen in Verse gefasst und Caravaggio in seiner ganzen Tragik gemalt hat. Der Knabe, der von der Jagd ermüdet, sich an einer Quelle niederlässt, erblickt auf der Wasseroberfläche sein Spiegelbild – offenbar zum ersten Mal, denn er hält das, was er sieht, für einen realen Körper und dazu für den Körper eines anderen, in den er sich verliebt. Er begehrt diesen anderen so sehr, dass er ihn im Wasser zu umfassen sucht. Dabei ertrinkt Narziss, ohne zu wissen, dass, was er liebt, er selber ist.

Der Zauber besteht in der naturgetreuen Wiedergabe eines Körpers, das heißt der Vorspiegelung der Alltagswirklichkeit. Es geht um die Konstitution von Identität zwischen Schein und Sein. Das Problem ist, dass die Wirklichkeit, die man im Spiegel sieht, nur ein Abbild ist, ein „Schatten“ (Ovid), und dazu seitenverkehrt. Was wir im Spiegel sehen, ist also weder wirklich noch wahr. Nur ich selbst sehe mich seitenverkehrt, die anderen sehen mich so, wie ich tatsächlich aussehe. Das haben wohl weder die Zeitungsmacher bedacht, die ihre Blätter Spiegel, Tagesspiegel, Weltspiegel nennen, noch die Wissenschaftler des verblichenen Realsozialismus, welche ihre Erkenntnistheorie „Widerspiegelungstheorie“ nannten.

Obwohl also, was man dort sieht, buchstäblich „verkehrt“ ist, genügt es im praktischen Leben doch zur Kontrolle des Selbst und der Umgebung. Die Verkehrtheit des Spiegels ist in dem Wort „Spiegelfechten“ erhalten: der Ausdruck, der heute so viel wie Blendwerk und Schwindel bedeutet, leitet sich von der Fechtübung vor dem Spiegel her, bei der man keinen wirklichen Gegner hat. Wenn man jemandem etwas „vorspiegelt“, redet man von Dingen, die nicht wirklich sind – wie die Luftspiegelung (Fata Morgana). Die reine Seitenverkehrtheit ist in „Spiegelschrift“ erhalten. In einen Handspiegel blickt „Vanitas“, eine der sieben Todsünden, die oft an Kirchenportalen – etwa am Straßburger Dom – als Standbild einer jungen Frau dargestellt ist. In ihrer Eitelkeit macht sie sich etwas vor, denn tatsächlich ist ihr Rücken bereits von Würmern zerfressen. Der Spiegel sagt ihr also nicht die Wahrheit.

Eitelkeit ist ein Verstoß gegen das erste Gebot („Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!“). Das Gebot richtet sich unter anderem gegen den Fetischismus, unter den die Eitelkeit insofern fällt, als sie eine Selbstvergötterung ist. „Vanitas“ bedeutet auch Vergänglichkeit. Vanitas-Motive werden in der Kunst als Mahnung an den Tod (Memento mori) dargestellt: etwa als erloschene Kerze, welkende Blume oder faulendes Obst.

Der Spiegel gilt als ein Sinnbild des Rokokos, insofern die Eitelkeit in der dekadenten Endphase des Feudalismus mit seiner forcierten Künstlichkeit einen Höhepunkt erreichte. Mit raffiniertester Selbstinszenierung galt es, die anderen zu blenden und in gedrechselten Komplimenten und eleganter Pose Zuneigung und Verehrung vorzuspiegeln. Mit dieser Falschheit verband sich ein Sinn für die Vergänglichkeit – Morbidität war en vogue. Der Spiegel dient nicht nur der Selbstkontrolle wie etwa beim Schminken, sondern auch der Kontrolle der Umgebung. Nur im Spiegel kann man beobachten, was im Hintergrund vorgeht – etwa im Autorückspiegel – und dazu, ohne als Beobachter selbst in Betracht kommen zu müssen. In den Spiegelsälen des Barocks und Rokokos kontrollierten der König und seine Späher, was an Verabredungen, Intrigen und Spielbetrug hinter dem Rücken vor sich ging.

Der Spiegel hat den Reiz des Indirekten – und gehört darum wie alle Indirektheit – in die Sphäre des Raffinements. So begegnete man in den Spiegeln der legendären Pariser Bistros etwa dem Blick einer Frau und begann in Gegenwart ihres Gatten mit ihr zu flirten. In den Séparées ermöglicht die verspiegelte Decke, das eigene Liebesspiel zu verfolgen. Im Barock wurde der Spiegel auch als Mittel zur fiktiven Erweiterung und zur Erhellung des Raumes verwendet. Einen Eindruck von diesen Möglichkeiten gibt das Spiegelkabinett, in dem man sich verirrt. Übrigens arbeiten auch die Magier mit Spiegeln, wenn sie Menschen fortzaubern. Die Illusion sowie der Betrug sind mit dem Spiegel fest verbunden. BURKHARD BRUNN