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Archiv-Artikel

„Niemand fürchtet mehr Deutschland“

Die Schriftstellerin Wibke Bruhns im taz-Gespräch über Patriotismus, den 20. Juli 1944 und Schwarzrotgold am Weihnachtsbaum

INTERVIEW MATTHIAS LOHRE

taz: Frau Bruhns, durfte Ihr kleiner Enkel während der WM auf Ihrem Balkon die deutsche Flagge schwenken?

Wibke Bruhns: Der ist noch ein bisschen klein. Davon mal abgesehen: Ich habe nichts gegen die Flaggen, die überall zu sehen waren. Aber auf meinem Balkon? Lieber nicht.

Also geht Ihnen die viel beschworene „Leichtigkeit“ im Umgang mit nationalen Symbolen zu weit?

Ach, das Feiern in Schwarzrotgold – das war doch bloß lautstarke Lebensfreude. Nach jedem Spiel war in meiner Straße der Teufel los. Nicht nur wenn die Deutschen gewonnen hatten, auch nach dem Finalsieg der Italiener. Alles voller Fahnen. Mir hat das Spaß gemacht. Außerdem gefiel mir das unglaublich entspannte Verhalten der Polizei. Die haben sich auch an dem Trubel gefreut.

Also Nein zum Flaggenschwenken auf Ihrem Balkon, aber ja zum schwarzrotgoldenen Trubel in den Straßen. Ist das nicht widersprüchlich?

Nein, wieso? Früher hatte ich eine Abneigung gegen alles, was nach öffentlicher Repräsentation des Staates aussah. Überall witterte ich Nationalismus. Das hat sich gelegt. Das Flaggenschwenken während der WM hatte doch weniger mit dem Staat zu tun, das war eine Liebeserklärung an die Mannschaft.

Dann hätten die Schwarzrotgold-Schwenker doch „Ballack!“ schreien müssen – und nicht „Deutschland!“.

Machen Sie es doch nicht so kompliziert. Es kamen schließlich alle dran: Klinsmann, Ballack, Klose. Gebündelt und kurz hieß das dann Deutschland.

Ich geb’s auf: Nicht einmal Sie – lange Zeit Korrespondentin in Israel und den USA, Tochter eines Mitwissers des Hitler-Attentats vom 20. Juli 1944 – sorgen sich vor neuer deutscher Geschichtsvergessenheit?

Warum sollte ich?

Weil die letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs wegsterben. Weil die Nazizeit vielen so weit weg scheint, dass es ihnen wie ein Kostümdrama aus tiefer Vergangenheit vorkommt. Weil das Wort „Patriotismus“ oft einhergeht mit den Worten „endlich“ und „normal“.

Patriotismus und Geschichtswissen behindern einander überhaupt nicht. Die meisten Deutschen haben die Hypothek des Holocaust verinnerlicht. Nur, weil Leute jetzt schwarzrotgoldene Pulswärmer tragen, nehmen sie nicht weniger Rücksicht auf die deutsche Geschichte. Wir können uns unbeschwert über unser Land freuen, wenn es, wie jetzt, dazu einen Anlass gibt. Zugegeben: Vor allem jüngere Leute verwechseln schon mal den Ersten mit dem Zweiten Weltkrieg – oder mit dem Dreißigjährigen Krieg. Aber dass Zehntklässler nicht mehr wissen, wer Claus Schenk Graf von Stauffenberg war, beunruhigt mich nicht. Die wissen auch nicht, wer August Bebel ist.

Bebel hat auch kein Attentat auf den größten deutschen Massenmörder aller Zeiten verübt.

Mal im Ernst: Man muss morgens beim Aufstehen nicht erst den Holocaust memorieren, um politisch korrekt den Tag zu beginnen. Es kommt doch darauf an, dass sich im Ernstfall Menschen finden, die gegen Naziaufmärsche demonstrieren.

Was hat die Patriotismusdebatte gebracht?

Das Wichtigste ist: Wir haben den Rechten die Fahne weggenommen.

Und jetzt?

Ich wünsche mir, dass die neu gewonnene Gelassenheit bleibt. Auch die der Polizei. Vor zehn Jahren fuhr ich mit meinem Auto mit französischem Kennzeichen nach Berlin. Das damals noch schwarze Nummernschild sah dem polnischen sehr ähnlich. Ich hielt an und fragte einen Polizisten nach dem Weg. Der schrie: „Hau ab, du Schlampe, du kannst hier doch nicht in der zweiten Reihe parken!“ Da stieg ich aus und fragte: „Geht es Ihnen nicht gut?“ Der Mann hatte inzwischen das kleine „F“ auf meinem Auto entdeckt, wurde blass vor Schreck und „entschuldigte“ sich: „Ich dachte, Sie seien Polin.“ Das gab Ärger – für ihn.

Wie sieht ein Alltag mit nationalen Symbolen aus? Sollen die Deutschen Flaggen in ihren Vorgärten hissen?

„Sollen“ – niemand soll. Aber an sich wäre das nichts Schlimmes. Als Kind lebte ich nach dem Krieg in Schweden. Die hissten an ihren Geburtstagen tatsächlich die Flagge im Vorgarten. Zu Weihnachten hingen kleine blau-gelbe Fähnchen in den Tannenbäumen. Ich war unglaublich neidisch. Ich ahnte nur: Mit meiner Flagge ist etwas nicht in Ordnung. Sind die Schweden deshalb nationalistisch? Nein! Die mögen ihr Land und ihre Fahne.

Hätten Sie das auch Anfang der 70er-Jahre gesagt, als Sie als junge Journalistin Wahlkampf für Willy Brandt machten?

Jedenfalls nicht in Bezug auf Deutschland. Damals war ich tief misstrauisch gegenüber Nationalismus. Damals hätte ich vermutlich auch gegen öffentliche Rekrutengelöbnisse, zum Beispiel am 20. Juli, protestiert. Heute finde ich: Solange wir eine Wehrpflicht haben, sollten die Gelöbnisse öffentlich sein. Der Staat, also wir müssen anerkennen, dass diese jungen Leute uns ein Lebensjahr opfern.

In diesem Jahr gibt es voraussichtlich zum ersten Mal seit langem keine Gegenproteste. Ist das ein Fortschritt oder ein Rückschritt?

Vor ein paar Jahren flitzten Nackte und Halbnackte über den Platz vor dem Bendlerblock, als gerade das Gelöbnis stattfand. Die Generäle schienen schockiert, aber komisch war es doch. Gerhard Schröder sah zu, verzog keine Miene. Anschließend allerdings beim Sektempfang grinste er mich an: „Hätten die nicht wenigstens hübsche Mädchen nehmen können?“ Das war typisch Schröder. 20 Jahre vorher wären die Flitzer ein Skandal gewesen, jetzt hat sie keiner ernst genommen. Da hat sich schon was geändert.

Wer hat sich seit den 70er-Jahren mehr geändert: Wibke Bruhns oder Deutschland?

Vor 30, 35 Jahren, das war die Zeit der Baader-Meinhof-Gruppe. Der Staat reagierte vollkommen unverhältnismäßig – mit Rasterfahndung und Sicherheitsgesetzen. Seither hat sich Deutschland ungeheuer verändert. Aber ich natürlich auch.

Ein Beispiel?

1968 lebte ich in Hamburg und sah die Demonstranten, die Steine auf das Springer-Verlagsgebäude warfen. Damals hätte ich liebend gern mitgemacht, hätte ich nicht zwei kleine Kinder gehabt. Springer war der Feind! Später habe ich ihn differenzierter gesehen: Wie er die RAF-Leute dämonisierte, war entsetzlich. Aber Springer hatte Recht bezüglich der DDR, die wir damals für den besseren deutschen Staat hielten. Was waren wir blauäugig! Man muss zugeben können, dass man Unrecht hatte.

Anfang der 70er-Jahre waren Sie Stern -Reporterin in Bonn und dicht dran an der Bundespolitik. Was würde Willy Brandt zur deutschen Gemütslage von heute sagen?

Der würde sich freuen! Vielleicht wird gerade Realität, was Brandt am 10. November 1989 auf dem Balkon des Schöneberger Rathauses sagte. Damals wurde seine Rede vom Zusammenwachsen Deutschlands belächelt. Das schien unrealistisch und sentimental. Vielleicht meinte er das aber ganz anders: als Chance Deutschlands, endlich von niemandem mehr gefürchtet werden zu müssen.

Und: Fürchten sich Ihre Freunde in Israel und den USA nicht?

Nein, im Gegenteil! Niemand fürchtet sich mehr vor Deutschland, und dieses Freudenfest der WM war ja auch nicht zum Fürchten, trotz der vielen Fahnen. Viele Israelis sehnen sich nach Normalität in ihrem krisengeschüttelten Land – siehe den Doppelkonflikt jetzt in Gaza und im Libanon. Sie würden gern vier Wochen pure Lebensfreude ohne Gewalt in ihrem Land haben. In den USA das Gleiche. Liberale Amerikaner wünschen sich den unbefangenen Umgang mit nationalen Symbolen zurück. Spätestens seit den Attentaten vom 11. September ist der verloren.

Ausgerechnet Deutschland als Vorbild der USA, wie man unbefangen mit der Nationalfahne umgeht?

Zumindest für die so genannten Liberals. Die haben derzeit ja einen schweren Stand.

Und in Deutschland? Hier wird die „neue Bürgerlichkeit“ beschworen. Können diese „neuen Bürger“ zum Vertreter eines liberalen Deutschlands werden?

Das klassische deutsche Bürgertum, zu dem auch die Familie meines Vaters gehörte, ist tot. Die Bürger des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren wohlhabende Kaufleute, im Denken und Handeln unabhängig und voller Verantwortungsgefühl für ihr Gemeinwesen. Mit der Nazizeit und im Zweiten Weltkrieg ist dieses Bürgertum untergegangen. Das wird auch nicht mehr wieder auferstehen. Aber die bürgerlichen Werte, was immer man heute darunter versteht, die gibt es noch.

Heute jährt sich das Hitler-Attentat der Gruppe um Claus Schenk Graf von Stauffenberg zum 62. Mal. Ihr Vater wurde als Mitwisser verurteilt und gehängt. Können Militaristen, Antisemiten und Monarchisten jungen Deutschen noch ein Vorbild sein?

Damit sind sie ja nicht erschöpfend beschrieben. Was bei all ihren Fehlern bleibt, ist das: Sie waren Menschen, die in einer Zeit, die ihr Gewissen forderte, es auch eingesetzt haben. Wenn das klar ist, können die Attentäter Vorbilder sein.

Waren sie auch Helden?

Henning von Tresckow, einer der Verschwörer, drängte Stauffenberg zum Attentat. Obwohl es keine Chance gab, noch etwas am Kriegsverlauf zu ändern. Als Botschaft an die Nachwelt, dass Deutsche den Widerstand gewagt hatten. Wenn Helden normale Menschen sind, die in einem bestimmten Moment aus Gewissensgründen über sich hinauswachsen, dann waren diese Leute Helden.

Sahen Sie als junge Frau Ihren Vater als Helden?

Nein. Ich hatte eine Nichtbeziehung zu diesem Vater, weil ich ihn nicht gekannt hatte. Er wurde kurz vor meinem sechsten Geburtstag ermordet und gehörte in der öffentlichen Sprachregelung zu den Helden. Ich wollte mich nicht mit fremden Federn schmücken: Das war sein Leben, seine Tat. Auch war mir die biedere Bundesrepublik der 50er- und 60er-Jahre, die die Attentäter für sich in Anspruch nahm, zutiefst suspekt.

Keine Lehre aus dem Leben Ihres Vaters?

Doch, natürlich. Durch meinen Vater habe ich gelernt, wovor ich mich zu hüten habe. Wofür es sich einzutreten lohnt, habe ich selbst lernen müssen.

Wie sieht das Verhältnis der Deutschen zu ihrem Land in 10, 15 Jahren aus?

Es wird unkomplizierter werden. Wer weiß: Vielleicht hängen wir dann tatsächlich schwarzrotgoldene Fähnchen in die Weihnachtsbäume.