An der Mutterbrust

Wenn Sie Mutter kennen und mögen, ist es wohl nicht nötig, hier großes Gewese zu machen, denn Sie wissen bereits alles über die Band. Vermutlich stehen Sie kurz vor Ihrem vierzigsten Geburtstag, wahlweise dem fünfzigsten und haben schon mal für die Spex geschrieben, vielleicht sogar eine Eloge auf besagte Combo. Sie sind an der Populärkultur genauso interessiert wie davon angewidert. Sehr wahrscheinlich halten Sie Joss Whedon für einen Visionär. Für 100 Euro haben Sie möglicherweise eine sogenannte Mutterschuldverschreibung erworben, um Mutter die Pressung ihres neuen Albums zu finanzieren und außerdem einen streng limitierten Druck der dazugehörigen Kaltnadelradierung des Frontmannes Max Müller Ihr Eigen nennen zu können.

„Hast du eine Mutter, dann hast du immer Butter“, sang Helge Schneider einstmals. Mutter ist eine ebensolche, und zwar für Ihresgleichen, meine lieben Damen und Herren Musikjournalisten und sonstige Gästelistenokkupanten. Denn: seit jemand mit Ohren am Kopf entdeckt hatte, dass Mutter um Jahre zu früh quasi im Alleingang die Hamburger Schule vorweggenommen haben, können Sie nicht mehr ohne. Mutter ist „Ihre“ Band, wie Sie nicht müde werden zu betonen. Die Geduld, mit der Sie Mutter anpreisen, ist bewundernswert. Sie haben da eine Musik aufgetan, die in all dem Popgewurschtel so eigen bleibt, dass kommerzieller Erfolg wohl weder angestrebt noch wahrscheinlich ist. Der Traum eines jeden Auskenners: eine Band, die so saucool ist und trotzdem auf ewig in kleinen finnischen Clubs spielen wird. Der ultimative Geheimtipp – und Sie müssen ihn nicht einmal für sich behalten. Sie können’s in die ganze Welt schreien und doch werden Sie auf den Konzerten nur sich selber begegnen. Da können Sie dann mit sich zusammen in Erinnerung schwelgen an diesen Auftritt, als Mutter den Diedrich, der eigentlich nur gescherzt hatte, beim Wort nahm und zwei Stunden lang John Lennons „Imagine“ auf der Schlachtbank sezierten. Rufen Sie sich dann die gespenstische Koinzidenz ins Gedächtnis, als Mutters Album mit dem prophetischen Artwork am 10. September 2001 erschien. Brennende Hochhäuser und George Bush! Einen Tag vor 9/11! Alter! Gehen Sie alsbald zum Tresen, nehmen ein Bier (Flasche, 0,33) zwischen Daumen und Zeigefinger, den Mittelfinger leicht angelegt, und schauen von dort verächtlich auf die Handvoll Rotznasen, denen Sie das erste Mal hier begegnen und die, Gott behüte, nur wegen der Show gekommen sind. DANIÉL KRETSCHMAR

■ Mutter – Record Release „TRINKEN SINGEN SCHIESSEN“: Festsaal Kreuzberg, Donnerstag, 21 Uhr