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Archiv-Artikel

Wo radeln sie denn?

Wer sich wegen der Skandale und Disqualifikationen diesmal endgültig von der Tour de France 2006 abgewendet hat, könnte etwas verpassen – es ist nämlich die spannendste Rundfahrt seit Jahren

von NIELS MÜLLER

In drei Tagen endet das berühmteste Radrennen der Welt. Und wenn die Fahrer der Tour de France am Sonntag nach über 3.600 Kilometern auf den Champs-Élysées in Paris ankommen, wird es erstmals seit sieben Jahren einen neuen Sieger geben. Die Suche nach einem Nachfolger des legendären Lance Armstrong, der von 1999 bis 2005 jede Rundfahrt gewann, ist spannend und abwechslungsreich wie kaum eine Tour zuvor.

Es begann bereits mit einer Überraschung, als der Norweger Thor Hushovd den Prolog zum Auftakt in Straßburg gewann – damit hatte niemand gerechnet. Ohnehin war es zu Beginn ausnahmsweise nicht absehbar, welches der 20 Teams in diesem Jahr den siegreichen Fahrer stellen würde – und noch immer radeln mehrere Profis um den Gesamtsieg. Die beiden Spanier Oscar Pereiro (vom Team Caisse d’Epargne-Illes Balears) und Carlos Sastre (CSC).

Sogar der Deutsche Markus Klöden (T-Mobile) hat gute Chancen. Das Gelbe Trikot des Führenden in der Gesamtwertung wechselte bisher beinahe täglich. Einen derart offenen Kampf um die Krone des Radsports hat es lange nicht gegeben.

Tragisch ist die diesjährige Tour ebenfalls. Mitleiden konnte man als Fan und Zuschauer etwa bei dem unvorhersehbaren Rückschlag für den favorisierten US-Amerikaner Levi Leipheimer vom Team Gerolsteiner, der bei einem Zeitfahren in der frühen Tourphase mit unglaublichen sechs Minuten Rückstand ins Ziel kam und sich von dieser Schlappe nicht mehr erholen sollte. Und seinem Landsmann Floyd Landis standen bei seinem spektakulären Einbruch die Qualen deutlich ins Gesicht geschrieben. Exprofi Marcel Wüst vermutet: „Sein Tank war leer.“ Nachdem Landis von seinem Teamkollegen Axel Merckx, dem Sohn der Radsportlegende Eddie Merckx, regelrecht ins Ziel geschleppt worden war, hatte er nicht nur das Gelbe Trikot des Gesamtführenden, sondern auch alle Hoffnungen auf den Gesamtsieg verloren. Solche sportlichen Dramen schreibt wohl nur die Tour de France.

Gleich in mehrfacher Hinsicht erfreulich ist die Tour auch aus deutscher Sicht. Die dritte Etappe gewann der T-Mobile-Fahrer Matthias Kessler nach einer tollen Fahrt, und sein überaus sympathischer Kollege Voigt errang den Tagessieg auf der 13. Etappe von Beziers Mediterrannée nach Montelimar. Und wohl jeder gönnte dem CSC-Fahrer den Erfolg. Überhaupt liegen die deutschen Teams gut im Rennen und im Gesamtklassement auf vorderen Plätzen. Andreas Klöden fährt sogar noch um den Gesamtsieg mit und könnte der erste deutsche Tourchampion seit 1997 werden – seit dem Triumph von Jan Ullrich.

Im krassen Gegensatz zu der besonderen Attraktivität der diesjährigen Tour de France stehen allerdings die besonderen Probleme, mit denen sie in diesem Jahr zu kämpfen hat – und die eng verbunden sind mit den Namen Jan Ullrich und Ivan Basso. Ullrich und der Giro-d’Italia-Sieger Basso galten als Favoriten, bevor sie noch vor Rennstart – zusammen mit vielen anderen Sportlern – suspendiert wurden.

Etliche Fahrer werden des Blutdopings beschuldigt. Die Verantwortlichen schlossen die Fahrer konsequent von der Tour aus. Das Rennen verlor dadurch nicht nur wichtige Akteure, sondern – schlimmer noch – auch viele Zuschauer. Die wandten sich enttäuscht von der Tour ab, weil das große Duell „Armstrong gegen Ullrich“, von dem die Tour in der Vergangenheit lebte und das in diesem Jahr als „Ullrich gegen Basso“ neu hätte aufgelegt werden sollen, nicht stattfindet. Zum anderen sind den meisten Radsportfans die neuerlichen Dopingvorwürfe, die Fahrer wie Jan Ullrich auch nach mehreren Wochen nicht entkräften konnten, endgültig zu viel geworden. Selbst hart gesottene Beobachter erklärten, in Zukunft auf die Tour verzichten zu können – was die sinkenden Einschaltquoten bestätigen. Während ARD und ZDF zur Sendezeit 2005 noch rund 20 Prozent Marktanteil hatten, lagen die Werte in diesem Jahr nur bei rund 15 Prozent – wobei Tourfrust und Desinteresse noch durch den heißen Sommer und die zuvor ausgiebig zelebrierte Fußball-WM verstärkt worden sein könnten.

Überdies herrscht unter den verbliebenen Zuschauer die Befürchtung, dass auch die aktuellen Fahrer die 20 Etappen nicht ohne verbotene Hilfsmittel hinter sich bringen. Die Zweifel sind so groß, dass sich viele Fans schon darauf eingestellt haben, dass die nächsten Enthüllungen nur eine Frage der Zeit sind.

So kommt es, dass die Frankreichrundfahrt im Sommer 2006 eine der aufregendsten der letzten Jahre ist – und trotzdem viele Zuschauer das Interesse verloren haben.