: Mutti gegen Aldi
KÜCHENDUELL Muss man Marmelade selbst kochen oder ist gekaufte besser? sonntaz-Autoren streiten über echte und simulierte Liebe im Schraubglas
Letzte Woche habe ich sie entdeckt: polnische Blaubeeren. Fünfhundert Gramm für stolze 3,95 Euro – nicht gerade ein gutes Geschäft. Aber die hier waren so ganz anders als jene wässrigen Kulturheidelbeeren, die es sonst in den Supermärkten gibt. Diese Beeren lagen in Bastkörbchen, waren klein, fest, fast schwarz und schienen per Zeitschleife direkt aus meiner Kindheit in Brandenburgs Wäldern gekommen zu sein. Ich kaufte sofort drei Körbchen, trug sie nach Hause und kochte noch am selben Abend mit einem Pfund Gelierzucker zweitausend Gramm der wunderbarsten Marmelade, die man sich nur denken kann.
Denn so geht das Marmelademirakel: sehen, kaufen, kochen. Am besten gerade jetzt, wo das Obst preiswert und richtig gut ist. Wo die Aprikosen duften und die Stachelbeeren an ihrem eigenen Saft zerplatzen, wo überreife Kirschen ganz schnell gegessen werden wollen – oder eben mit 3:1-Gelierzucker, Vanilleschote und Zitrone in einen großen Kochtopf geschmissen und zu Marmelade zerkocht.
Den duftenden heißen Brei fülle ich in Twistgläser, klebe handgeschriebene Etiketten drauf, trage sie in den Keller und warte. Auf Anlässe. Besucher aus der Stadt zum Beispiel, Geburtstage von Städtern sowie allgemein Partys von Städtern. Denn niemand freut sich so schön wie die über alles, was selbst gemacht ist. Selbstgemachtes vermittelt ihnen einen Hauch von Oma und Mutti, etwas Ursprüngliches und Duftiges, etwas, das sie in ihren coolen Großstadtwohnungen auch noch aufs Brötchen schmieren können.
Ihre Entfremdung von allem Gärtnerischen, dem Jahreskreis vom Blühen, Ernten und Vergehen offenbart sich vor allem dann sehr eindrucksvoll, wenn sie, das geschenkte Glas Himbeer-Rhabarber-Marmelade in Händen haltend, fragen: „Aus deinem Garten?“ Dann muss die Marmeladeköchin lachen. Derlei kann nur der Städter fragen. Denn seit wann sind Himbeeren und Rhabarber gleichzeitig reif? „Nein“, würde sie dann gern wahrheitsgemäß antworten, „der Rhabarber ist von Aldi und die Himbeeren sind aus der Gefriertruhe“. Das aber will der Städter nicht hören. Und deshalb schont ihn die Marmeladeköchin und antwortet: „Ja, selbst geerntet, selbst eingekocht. Extra für dich.“ ANJA MAIER
Es gibt so wenig Liebe auf der Welt – wer hat da noch Kapazitäten, sie ausgerechnet in die Marmelade zu tun? Kein Mensch. Es bietet sich daher an, selbige einfach im Supermarkt zu kaufen und sie sich stattdessen liebevollst einzuverleiben: Ach, Tamara! Marlene, du Gute mit dem hohen Fruchtanteil. Und natürlich „Bonne Maman“ mit dem roten Karo-Lätzchen auf dem Deckel. Von Produktdesignern simulierte Liebe, die einfach so durch den Magen geht, ohne dass irgendjemand allzu viel Aufhebens darum macht. Auf’s Brot schmieren, fertig.
Es ist längst ein Gemeinplatz, dass selbst gemachte Marmelade keineswegs besser schmeckt als im Supermarkt gekaufte. Im Gegenteil: In der am heimischem Herd oft dilettantisch zusammengerührten Masse finden sich womöglich homöopathische Dosen von Liebe, dafür aber umso mehr Zucker und vergleichsweise wenig Frucht. Die mangelnde Professionalität bei der Konservierung des selbst gebastelten Emotionskonzentrats führt zudem häufig dazu, dass die Marmelade schon nach kurzer Lagerungszeit grünen Pelz trägt.
Der deutsche Marmeladen-Kult ist auch ideologisch bedenklich, trägt er doch deutliche Züge protestantisch-lebensreformatorischer Verhärmtheit: reine Sitten, reine Marmeladen. Das Töpfchen mit der selbst gemachten Marmelade, gerne auch als Geschenk gereicht, birgt in sich die klebrig-zähe Essenz einer alles Pralle und Sinnliche eindampfenden und im Anschluss hermetisch abschließenden Lustfeindlichkeit. Esst mehr Obst! Schlagt eure Zähne in unschuldiges Fruchtfleisch! Reißt die Pflaume vom Baume und die Kleider vom Leibe!
Nein, Marmelade, du trägst keine Liebe in dir. Und deine Konsistenz verheißt auch keine Einheit mit der Natur. Der Garten Eden ist längst eine monokulturelle Anbaufläche – Obstbäume und Sträucher werden nach der Brombeerernte geschreddert und zu Pellets verarbeitet.
Das bisschen Marmelade, das man als durchschnittlicher Konsument wirklich braucht – zum Frühstück nämlich –, kann man getrost beim Händler erwerben. Ist auch preiswerter: Der Aufwand, den man für ein Gläschen selbst gemachter Marmelade leisten muss, steht in Bezug zu den Kosten in keinerlei Verhältnis. MARTIN REICHERT