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Archiv-Artikel

Aus der Perspektive des Hundes

REPORTAGELITERATUR Marie-Luise Scherer dokumentiert das Leben von Hunden am ehemaligen deutsch-deutschen Grenzstreifen

Nach seiner Entlassung findet Alf ein neues Herrchen und ein neues Frauchen

Was verspricht eine erneute Betrachtung des Bildes der deutsch-deutschen Grenze mit Todesstreifen, Wachtürmen und Grenzbeamten? Was könnte da hinzugefügt werden? Beim Lesen von Marie-Luise Scherers Reportage „Die Hundegrenze“, die 1994 im Spiegel erschien und nun bei Matthes & Seitz neu aufgelegt wurde, kommt man aus dem Staunen nicht mehr heraus, so verwundert ist man darüber, was dieses Bild bei einer Perspektivverschiebung noch hergibt.

Scherer richtet den Blick auf das Leben und Überleben an der Grenze. Im Mittelpunkt aber stehen weder Republikflüchtlinge noch Todesschützen. Scherer betrachtet die Schreckenslandschaft zwischen den zwei Deutschlands aus der Perspektive der dort patrouillierenden Wachhunde.

In dem Ensemble aus Wachtürmen, Minenfeldern und Selbstschussanlagen waren seit Mitte der 1960er Hunderte Wachhunde an Laufleinenanlagen unterwegs. Darunter der Schäferhundmischling Alf, der Held der Geschichte, dessen Schicksal Scherer bis nach der Grenzöffnung nachzeichnet. „Die Hundegrenze“ ist eine fundierte Recherche des Hundezüchtungs- und Ausbildungssystems der DDR. Dieser komplexen Reportage mit ihren Zeitsprüngen und Plotüberkreuzungen folgt man jedoch nicht nur ihrer Ironie einer Geschichte des östlichen Deutschlands im Spiegel des Wachhundesystems wegen.

Es ist auch die bewundernswerte sprachliche Präzision Scherers, die nichts dem Zufall überlässt und die Szenerie schattenlos ausleuchtet. Mimetisch nähert sie sich der Amtssprache der Grenzer, die sie schmerzlos imitiert. Sympathie ist ausgeschlossen, das „Stöckchen“ wird hier zum „Bringholz“. Und an den Charakterstudien der Züchter und Ausbilder, die erst im Umgang mit den Hunden Kontur erhalten, zeigt sich die einzigartige Beobachtungsgabe der Reporterin, die weiß, dass häufig nur der Blick, der danebenzielt, ins Schwarze trifft.

Nach seiner Entlassung findet Alf ein neues Herrchen und ein neues Frauchen: Das Ehepaar Herbig aus dem DDR-Grenzgebiet schafft sich einen Wachhund zum Schutz vor „fremdländischen“ Männern an, die nach dem Mauerfall Teppiche vor der Haustüre feilboten. Alfs Aufgabe war nun nicht länger der Staats-, sondern der Privatschutz. PHILIPP GOLL

Marie-Luise Scherer: „Die Hundegrenze“. Matthes & Seitz, Berlin 2013, 96 S., 14,90 Euro