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Archiv-Artikel

Haltungsnoten

EINSATZ Nächste Woche beginnen die Olympischen Winterspiele in Sotschi. Überall wird über die Menschenrechtsverletzungen der russischen Regierung gesprochen, nur die meisten Sportler schweigen beharrlich. Können sie nicht? Wollen sie nicht?

Das sagen die Sponsoren

■ Die Fragen: Human Rights Watch und der Lesben- und Schwulenverband Deutschland haben die Olympia-Sponsoren aufgefordert, sich gegen Menschenrechtsverletzungen in Russland auszusprechen. Die sonntaz hat die zehn Hauptsponsoren und den Auto-Partner Volkswagen gefragt, was sie dazu planen.

■ Die Antworten: McDonald’s: „Wir stehen weiterhin hinter der Position des IOC, dass politische Themen in den politischen Raum gehören und daher auf zwischenstaatlicher Ebene behandelt werden müssen.“ Coca-Cola: „Coca-Cola ist seit über 127 Jahren eine Marke, die Menschen vereint.“ Volkswagen: „Wir klammern kritische und kontroverse Themen nicht aus – sprechen sie aber zunächst gern im direkten Dialog an.“ Visa: „Wir sind mit dem IOC zu diesem wichtigen Thema im intensiven Gespräch.“ Noch nicht genug? Mehr zu den Antworten der Sponsoren: taz.de/sponsoren.

AUS BERLIN, MÜNCHEN UND VOM KÖNIGSSEE CONSTANTIN WISSMANN, ANDREAS RÜTTENAUER UND THOMAS BECKER

Eberhard Gienger will bei den Olympischen Spielen in Russland eine Medaille gewinnen. Er ist Weltmeister, eine Medaille hat er schon. Die Chancen stehen auch diesmal nicht schlecht. Gienger ist 29, er zieht den Scheitel akkurat, seine Muskeln sind fein ausdefiniert, besonders an den Oberarmen. Russisch studiert er gerade. Er freut sich auf die Spiele.

Aber dann kommt dem Spitzensportler Eberhard Gienger die Politik in die Quere.

Russische Truppen, ein US-Präsident im Wahlkampf, der Kalte Krieg.

Im Juli 1980 beginnen die Olympischen Sommerspiele in Moskau. Eberhard Gienger, Kunstturner, olympisches Bronze in Montreal 1976, am Reck schlägt er fast alle. Nun soll er plötzlich Politik machen. Der Bundeskanzler will es so.

Im Dezember 1979 war die Sowjetunion in Afghanistan einmarschiert, in den Bürgerkrieg zwischen den kommunistischen Führern und Aufständischen. US-Präsident Jimmy Carter fordert daraufhin die Welt zum Boykott der Spiele in Moskau auf.

Bundeskanzler Helmut Schmidt, Verbündeter der USA im Kalten Krieg, empfiehlt dem NOK, dem Nationalen Olympischen Komitee, Carters Aufruf zu folgen. Eberhard Gienger bekommt das von Schmidt noch einmal persönlich erläutert. Mit einigen anderen Athleten sitzt er im Bonner Bundeskanzleramt.

Der Kanzler redet über Bündnistreue. Und zeigt an einer Landkarte, welche geopolitischen Folgen der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan gehabt hätte. Gienger spürt, wie kalt sich Realpolitik anfühlen kann. Wenn sie unbedingt nach Moskau fahren wollten, könnten sie das tun, sagt der Kanzler. Sie müssten nur alles selbst bezahlen.

Im Mai 1980 beschließt das NOK den Boykott. Eberhard Gienger, der sich bis dahin als völlig unpolitischen Sportler betrachtet hat, muss sich entscheiden. Beugt er sich dem Votum des Komitees, wird er wohl nie wieder eine Medaille gewinnen. Fährt er, wirft man ihm das vor.

So erinnert sich Gienger heute daran, 34 Jahre später. Die Diskussionen damals empfand er oft „wie ein Tribunal“. „Wie könnten wir in einer Diktatur wie Russland auftreten, nur um unserem Hobby zu frönen, das haben die Leute uns vorgeworfen“, erzählt er.

Gienger fährt nicht. Er kauft mit seiner Frau ein Haus. Bei Olympia tritt er nie mehr an.

Eberhard Gienger ist kein auffälliger Typ. Die blassblaue Krawatte perfekt geknotet, das Haar schütter, die Stimme sanft, so sitzt er jetzt im Restaurant des Reichstagsgebäudes und trinkt Kakao. Seit 2002 ist das sein Arbeitsplatz, seitdem vertritt er im Bundestag für die CDU den schwäbischen Wahlkreis Neckar-Zaber, immer direkt gewählt.

Er ist sportpolitischer Sprecher der Unionsfraktion. Er wird nun doch einmal Olympische Spiele in Russland erleben. Kommende Woche reist er mit Innenminister Thomas de Maizière nach Sotschi, wenn dort die Winterspiele beginnen.

Und wieder geht es nicht nur um Sport, sondern auch um Politik und Proteste. Hochrangigste westliche Politiker bleiben fern. US-Präsident Barack Obama ebenso wie Bundespräsident Joachim Gauck und Frankreichs Präsident François Hollande samt aller Vertreter seiner Regierung. Alle aus Termingründen.

Diesmal geht es um die Menschenrechtsverletzungen, die man der Regierung Wladimir Putins vorwirft, um die Diskriminierung von Homosexuellen. In Russland wurde ein Gesetz verabschiedet, das „Propaganda von nicht traditionellen sexuellen Beziehungen unter Minderjährigen“ verbietet. Im Prinzip macht sich damit jeder strafbar, der vor Kindern sagt, Homosexualität sei normal. Immer wieder werden Schwule und Lesben in dem Land beschimpft und verprügelt.

Die Sportler aber werden nach Russland fahren, einen Boykott hat keiner angekündigt. Allein aus Deutschland treten 152 Athletinnen auf Skiern, Boards oder Schlittschuhen in Sotschi an.

Doch diesmal stellen die Journalisten ihnen vorher nicht nur Fragen nach der Form, der Bestzeit, der Konkurrenz, sondern wollen meist auch wissen: „Werden Sie bei Olympia gegen die Menschrechtsverletzungen protestieren?“

Eine Erwartung, die nach dem Coming-out des ehemaligen Fußball-Profis Thomas Hitzlsperger und dem Medienjubel danach noch viel selbstverständlicher daherkommt: Sportler müssten sich doch einmischen, gerade weil sie im Rampenlicht stehen. Wäre alles andere nicht unmoralisch?

Maximilian Arndt steigt aus seinem Zweierbob. Helm ab, Mütze auf. Dann: Schlitten wiegen, auf Transportschienen heben, in den kleinen Laster schieben. Das Training ist vorbei. Arndt packt an, als gehe es beim Aufräumen nach der Fahrt noch um Bestzeiten. Das Gespräch mit ihm läuft anschließend ähnlich. Her mit den Fragen! Zack, hier Antworten.

Arndt steht im Zielbereich der Bob- und Rodelbahn am Königssee in den bayerischen Alpen. Der mächtige Watzmann hat sich hinter dunkelgrauen Wolken versteckt. So wenig Schnee hat lange kein Winter gebracht. Gut, dass die Kunsteisbahn gar keinen Winter braucht.

Gold ist für Maximilian Arndt, 26 Jahre alt, geboren im thüringischen Suhl, Weltmeister 2013, eigentlich fest eingeplant. In dieser Saison hat er ein Weltcuprennen mit seinem Weltmeistervierer gewonnen. Seine Freunde gehen jetzt schon davon aus, dass er bald Olympiasieger ist.

Training lief gut, sagt er. Vier Wochenenden lang ist er jetzt von Bobbahn zu Bobbahn getourt. „Das geht schon an die Substanz, das merkt man allen hier an“, sagt Arndt.

Ihm eigentlich nicht. Er haut die Sätze raus wie ein sprechender Energieriegel. Nein, eine Olympiasaison sei nicht grundsätzlich anders als eine normale Weltcupsaison. Man nehme das Training nur ernster.

Hoch in die Kurven fahren und am Ende der Kurve so lenken, dass der Schlitten nicht ins Rutschen gerät. Kurve vier, Kurve fünf, Kurve sechs, der Kreisel. Keine Minute sind die Bobs beim letzten Weltcuprennen vor Olympia am Königssee unterwegs, Sekunden, über die Piloten und Trainer stundenlang diskutieren können.

Der Eistunnel ist die Welt von Maximilian Arndt, eine Welt, aus der er gar nicht heraus will.

Hat er sich schon mit Russland beschäftigt? „Ich versuche mich auf meinen Sport zu konzentrieren“, sagt Arndt.

Er steht unter Druck, man erwartet viel von ihm. Gegen den Druck arbeitet er an, indem er sich ins Training stürzt.

„Ich muss einfach machen, was ich kann“, sagt er. Bobfahren also. „Was soll ich mich groß engagieren in Russland, ändern kann ich sowieso nichts.“ Er wischt die Fragen weg wie Kratzer auf der Eisbahn.

Dass Bundespräsident Joachim Gauck die Spiele nicht besuchen will? „Muss er wissen“, sagt Arndt nur und dass er sich schon gefreut hätte über einen präsidialen Besuch. Über die Anerkennung, die das bedeutet.

Ist er sauer auf den Präsidenten? „Jetzt machen wir erst mal einen schönen Wettkampf. Tschüs“, sagt Maximilian Arndt.

Er setzt sich zu seinem Bob auf die Ladefläche des kleinen Lkws. Abfahrt. Er lächelt.

Ist das nicht ungeheuerlich?

Ein Sportler tritt in einem Land an, in dem Menschen offen diskriminiert werden, per Gesetz. Und den Sportler interessiert das offenbar nicht im Geringsten.

Es wirkt allerdings gar nicht ungeheuerlich, wie er das alles so abblockt. Nicht einmal besonders unsympathisch. Eher selbstverständlich.

Maximilian Arndt ist Polizist, angestellt bei der Sportfördergruppe der Bundespolizei. Sein Leben besteht aus einem Eistunnel, in dem jede falsche Bewegung Sekundenbruchteile kosten kann. Den Sieg. Die Medaille.

Er scheint Angst zu haben, dass er aus der Bahn fliegt, wenn er sich zu sehr aufs Leben außerhalb des Tunnels konzentriert.

Wie Arndt äußern sich etliche andere – nicht. Er sei in erster Linie Sportler und müsse sich auf seine Leistung konzentrieren, sagt Langläufer Tobias Angerer. „Darauf habe ich mich vier Jahre lang vorbereitet.“ Was im Hintergrund passiere, sei „unwichtig“, findet die Eiskunstläuferin Aljona Savchenko.

Für Sportlerinnen gelten nicht nur bei Wettkämpfen harte Regeln, die Strenge bestimmt ihren ganzen Alltag – das Trainieren, Essen und Schlafen. Viele sind bei Polizei oder Bundeswehr angestellt.

Ausgerechnet diese Athleten sollen nun ihre Fäuste, die Skistöcke oder Eishockeyschläger zum Protest gegen Putin erheben?

Ja, man würde es sich schon wünschen, wenn man so in seinem Fernsehsessel sitzt und ihnen zusieht. Etwas stimmt schließlich nicht mit diesem Russland. Jemand muss das doch sagen. Wer, wenn nicht sie, die die ganze Zeit im Fernsehen zu sehen sind? Schließlich basiert ihr Leben, ihre Karriere auch auf dem Fairness-Grundsatz. Sie sind Idole, Vorbilder für Tausende junge Sportlerinnen, die ihnen nacheifern.

Vielleicht muss man mit Athleten sprechen, die nicht durch Tunnel rasen, wenn man nach klareren Haltungen sucht.

Konstantin Schad ist 26 Jahre alt. Ein legerer Typ mit verstrubbelter Frisur und immer ein bisschen Bart. Seine Disziplin: Snowboardcross. Snowboarder haben als Außenseiter auf den Pisten angefangen. Sie waren die anderen. Die, die mit nur einem Brett und ohne Stöcke fuhren, oft am Rande der offiziellen Routen. Vielleicht wird ihnen deshalb eine kritische Haltung nachgesagt. Vielleicht kam deshalb kürzlich ein TV-Team auf Schad zu.

Vor laufender Kamera pappte jemand ihm einen Regenbogenaufkleber aufs Hemd und wollte wissen, was er über Homosexuellen-Rechte in Russland denke.

„Da fühlte ich mich schon überrumpelt“, sagt Schad. Er isst gerade zu Mittag, im Restaurant des Münchner Olympiaturms. Im Olympiapark trainiert er.

Schad ist durchaus einer, der über die Pistenbegrenzungen hinausblickt. Auch als Athletensprecher des deutschen Snowboardverbandes. Das sind seine zweiten, vermutlich letzten Olympischen Spiele. Er will sich nicht instrumentalisieren lassen. Vor vier Jahren in Vancouver fragte Greenpeace an, ob er sich nicht gegen Fracking engagieren wolle. Schad lehnte ab, damit hatte er sich nicht beschäftigt.

Im schlimmsten Fall droht Engagierten der Rauswurf

Er habe auch dem TV-Team mit dem Aufkleber geantwortet, „dass ich natürlich grundsätzlich für freie Meinungsäußerung eintrete – ohne mich damit gleich zur Speerspitze der russischen Homosexuellenbewegung gemacht zu haben.“ Er rechtfertigt das so: „Wer bin ich denn, mir herauszunehmen, die russische Regierung öffentlich zu kritisieren? Ich weiß viel zu wenig über dieses Land, um da ein fundiertes Urteil abgeben zu können.“

Ein paar Dinge weiß heute aber jeder: Selbst in den Sportteilen fehlt in kaum einem Olympia-Vorbericht der Hinweis auf die Verfolgung Homosexueller, die ausgebeuteten Arbeiter an den Sportstätten. Und akzeptiert nicht, wer schweigt, dass die Politik, auch die russische, die Spiele zu ihren Zwecken missbraucht?

Schad ist Vollprofi. Die Eröffnungsfeier in Sotschi wird er verpassen, weil sie ihm nicht in den Wettkampfplan passt. Er ist vermutlich auch Profi genug, um sich noch an Informationsveranstaltungen des IOC zu erinnern, wo man ihnen nicht nur ein umfangreiches Vertragswerk vorstellte, sondern sie auch bat, politisch nicht aktiv zu werden.

Im schlimmsten Fall droht bei politischem Engagement der Ausschluss vom IOC. Vier Jahre Training für nichts.

Das IOC beruft sich dabei auf die Olympische Charta. Die verbiete Demonstrationen „politischer, religiöser oder rassebezogener Propaganda an den olympischen Stätten, Austragungsorten oder anderen Bereichen“. Wo genau Propaganda anfängt, ist nicht klar. Fingernägel zumindest sind ein Problem, das weiß man seit den Leichtathletikweltmeisterschaften im vergangenen Jahr in Moskau.

Dort lackierte sich die schwedische Hochspringerin Emma Green Tregaro die Fingernägel in Regenbogenfarben. Das IOC teilte mit, dass es Proteste zum Gesetz gegen „Homosexuellen-Propaganda“ bei den Winterspielen nicht akzeptieren werde. Man wolle verhindern, dass die Athleten in politische Kontroversen hineingezogen werden.

Felix Neureuther, derzeit Deutschlands bester Skirennfahrer, wirkt angesichts der allgemeinen Zurückhaltung fast wie ein politischer Aktivist, wenn er im Spiegel sagt. „Ich muss schon sagen, dass mich die Debatte um die Menschenrechte in Russland berührt und ich kann mir nicht vorstellen, dass die anderen Sportler das einfach ausblenden können.“

„Neureuther kritisiert IOC.“ Die Schlagzeile stand danach auf sämtlichen Nachrichtenportalen. Zu dem Medaillendruck kommt dann plötzlich noch ein anderer. Auf einmal trägt man das Label „politischer Athlet“. Noch mehr Interviewanfragen.

Unterhaltsame Höchstleistung in politisch korrekter Haltung. Verlangen wir, die Fernbedienung bequem in der Hand, zu viel von den Athletinnen?

„Die ständige Erwartung, dass ein Sportler eine politisierte Moral in sich tragen müsse, die ist einfach überdreht“, sagt Hans Ulrich Gumbrecht, Sport-Intellektueller und Literaturprofessor an der kalifornischen Stanford-Universität. Im antiken Griechenland, sagt Gumbrecht, hätte es diese Trennung noch gegeben, die Sportler wurden ohne „Moral-Druck“ allein für ihre Ästhetik bewundert. „Doch in unserer expandierten westlichen Kultur kann nichts legitim sein, was nicht einen politisch-moralischen Anspruch hat.“ So würden wir Athleten zu politischen Kommentatoren machen und enttäuscht sein, wenn sie dieses Verlangen nicht befriedigen.

Berti Vogts sah keine politischen Gefangenen

Man muss da an Berti Vogts denken. Bei der Fußballweltmeisterschaft 1978 wurde er nach seiner Meinung zu der Diktatur in Argentinien gefragt. „Ich habe keinen politischen Gefangenen gesehen“, sagte Vogts. Bis heute wird er dafür verspottet.

Zu Unrecht, findet Gumbrecht. Bei einem Sportler käme es nun einmal vor allem auf „Performanz und Präsenz“ an. Das sei seine Kernkompetenz, nur danach solle er beurteilt werden.

Und was ist mit einem der berühmtesten Bilder der olympischen Geschichte? Mexiko, 1968. Die US-Sprinter John Carlos und Tommie Smith recken bei der Siegerehrung für das 200-Meter-Rennen ihre Fäuste in die Luft. Das Zeichen der Black-Power-Bewegung. Das Bild brennt sich ins kollektive Gedächtnis ein.

Der Verband der USA weist Smith und Carlos nach der Aktion aus dem olympischen Dorf aus. Sie werden als Kommunisten beschimpft und erhalten Morddrohungen.

„Es war ein Schrei nach Freiheit und Menschenrechten. Wir mussten gesehen werden, weil wir nicht gehört wurden“, sagt Tommie Smith 40 Jahre später.

Heute erinnert eine zehn Meter hohe Statue vor der Universität im kalifornischen San José an sie. Ihr Protestbild wirkt in Geschichtsbüchern wie einer der wesentlichen Schritte gegen die Diskriminierung Schwarzer.

Ein Moment, der die Welt verändert hat. Es ist kein geopolitisch kühler Protest, wie ihn Helmut Schmidt 1980 verordnet. Es ist eine gesellschaftliche Kampfansage. Beim Protest in Sotschi vermischen sich geopolitisches Kalkül und der Glaube an eine freiere, tolerantere Gesellschaft.

Boykotte, Proteste, Streiks und 1972 ein Terroranschlag: Die olympische ist untrennbar von der politischen Geschichte.

Der texanische Germanist John Hoberman wirft dem IOC vor, das zu ignorieren. Die Haltung des IOC nennt Hoberman „amoralischen Universalismus“: niemand dürfe diskriminiert werden, auch die nicht, die andere diskriminieren. Das erst, schrieb Hoberman schon 1986 in seinem Buch „The Olympic Crisis“, ermögliche es der Bewegung, gleichzeitig universale, fundamentale, ethische Prinzipien zu unterstützen und die Spiele an die größten Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu vergeben: Deutschland 1936, Sowjetunion 1980. Und China 2008, könnte man ergänzen.

Im April 1980 turnt Eberhard Gienger in der Dortmunder Westfalenhalle eine Reck-Kür, 5.000 Zuschauer sind gekommen. Mit der Sportshow wollen die Athletinnen zeigen, dass sie für Moskau bereit wären. Die Bundesrepublik folgt dann zwar Jimmy Carters Aufruf. Wie 40 weitere Staaten. Allerdings nicht ohne heftige Diskussionen.

„Niemand soll glauben, dass man durch einen Boykott einen einzigen russischen Soldaten aus Afghanistan herausholt“, sagt der SPD-Vorsitzende Willy Brandt damals. „Olympiaboykott ist Unfug. Dann redet alles nur über die geplatzten Spiele und niemand mehr über die Invasion in Afghanistan“, erklärt Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff.

Vier Jahre später in Los Angeles treten die Sowjetunion und 18 ihr verbundene Länder nicht an. Tommie Smith und John Carlos, die in Mexiko die Fäuste reckten, sind da schon in die Hall of Fame des Leichtathletikverbandes der USA aufgenommen worden.

Wer sind die Tommie Smiths und John Carlos’ von heute?

Belle Brockhoff weiß seit dem 23. Januar, dass sie in Sotschi dabei sein wird. Im Boardercross, dem harten Wettrennen Frau gegen Frau auf dem Snowboard, will sie um die Medaillen mitfahren. 2012 war sie im österreichischen Montafon einmal Dritte in einem Weltcuprennen. Es wird schwer für sie sein, bei den Spielen im Kaukasus ganz vorne mitzufahren, auch wenn sie sagt, dass ihr Ziel Gold ist. Sie wird in jedem Fall im Mittelpunkt stehen in Russland.

Belle Brockhoff, 21 Jahre alt, Australierin, ist eine der wenigen offen lesbischen Sportlerinnen, die in Sotschi an den Start gehen werden. Im August 2013 hatte sie ihr Coming-out. Seitdem engagiert sie sich gegen Diskriminierung. In Interviews trägt sie manchmal Flecktarn-Hosen, eine Sonnenbrille auf der Mütze. Am Telefon spricht sie mit ihrem leicht verschliffenen australischen Akzent.

Mit T-Shirts gegen Diskriminierung

Brockhoff ist zum Gesicht der weltweiten Kampagne namens „Principle 6“ geworden, Spitzensportler gegen Homophobie. Über die Diskriminierung in Russland ist sie entsetzt. „Ich hoffe, dass ich etwas dazu beitragen kann, dass sich dort etwas verbessert“, sagt sie. Die Kampagne hat sich einen Leitsatz der olympischen Charta zu eigen gemacht, das Principle 6: „Jede Form von Diskriminierung eines Landes oder einer Person aufgrund von Rasse, Religion, Politik, Geschlecht oder aus sonstigen Gründen ist mit der Zugehörigkeit zur Olympischen Bewegung unvereinbar.“ Ein Modelabel hat ein knallrotes T-Shirt entworfen, auf dem eine große Sechs und der Text gegen Diskriminierung zu sehen sind, und vertreibt es in seinen Läden. Tennisikone Martina Navratilova oder Basketballstar Steve Nash haben für die Kampagne posiert.

Belle Brockhoff will das T-Shirt durch das olympische Dorf tragen, so oft wie möglich. Noch vor einem halben Jahr, als sie von den neuen russischen Gesetzten hörte, hatte sie Angst, sie könne von den Russen abgeschoben werden. Heute weiß sie, dass sie als Athletin bei Olympia unter besonderem Schutz steht. Das australische nationale Olympiakomitee steht hinter ihr. „Zu 100 Prozent“, sagt sie.

Der australische Verband hat auch sie darüber informiert, dass politische Meinungsäußerungen während Olympia bei offiziellen Anlässen verboten sind. Sie will aber nicht zu allem schweigen: „Wir haben schließlich das Recht auf Meinungsäußerung.“

Wer davon keinen Gebrauch macht, wird im schlimmsten Fall von den politischen Mächten benutzt. So wie es Eberhard Gienger 1980 erlebte.

Gienger sitzt im Bundestagsrestaurant und trinkt seinen Kakao. „Für mich war der Boykott ein Teil der Kampagne Jimmy Carters für seine Wiederwahl, dafür benutzte er den Sport und die Olympischen Spiele“, sagt er.

Die Sportler mussten sich dann der Staatsräson beugen. Politisch bewirkt habe der Boykott 1980 jedoch nichts, ebenso wenig wie dessen Vorgänger und Nachfolger.

Wird er sich in Sotschi einmischen? „Ich möchte mir da die Situation anschauen und gegebenenfalls mich dort dazu äußern“, sagt Gienger. Das sei wirkungsvoller. Als er damals fern blieb, sei der einzige Effekt gewesen, „dass der Sport entwertet wurde und in vielen Disziplinen die Spitzenleute fehlten“.

Vielleicht sollte man sich bei Sotschi 2014 mehr an Mexiko 1968 erinnern. Manche fragen jetzt, ob es wieder einen „John-Carlos-Moment“ geben wird.

Wird jemand auf dem Siegerpodest die lackierten Fingernägel recken?

John Carlos, der Sprinter, ist heute 68 Jahre alt. Wenn jemand in Sotschi aufstünde, hat er gerade in einem Interview gesagt, würde er erst einmal riskieren, verdammt zu werden. Bis die Gesellschaft aufwache. Und erkenne, dass er recht hat.

Man muss seinem Gewissen folgen, sagt Carlos.

Constantin Wißmann, 33, ist freier Journalist in Berlin. Er hat schon einige Urlaube vor dem Fernseher verbracht, um Olympia zu schauen

Andreas Rüttenauer, 46, ist Sportredakteur der taz. Früher ist er auch mal Ski gefahren. Er wird aus Sotschi berichten

Thomas Becker, 48, ist freier Autor in München. Er war mal mit Extrem-Skifahrern in Sotschi. Da hat es allerdings geregnet