: Es ist nicht nur ein Kuss
Anlässlich des Kiss-ins beim heutigen CSD in Berlin: Betrachtungen über die intimste aller menschlichen Handlungen – und ihre schlimmen und schönen Folgen damals, hier und heute
VON JAN FEDDERSEN
Die Essenz entwicklungspsychologischer Forschung zur Frage, mit was Menschen ihr Innerstes zum Ausdruck bringen möchten, ihre Intimität, ist allenthalben geklärt: mit dem Mund. Jener Körperteil, mit dem Nahrung aufgesogen wird, der lustvoll Hautkontakt sucht – und den Mutter oder Vater, die oder der Amme, küssen. Über den Mund wird das Potenzial zum Sexuellen generiert, manche sagen: Ohne Küssen geht gar nix.
Der Mund – in erster Linie seine Lippen – ist jener Teil der Hautoberfläche, der die Feinheiten menschlicher Anbahnungen registriert. Und das Küssen ist intimer als jede andere sexuelle Berührung. Indem sie nicht küssen, klären Prostituierte für sich, dass sie, gehen sie ihrem Job nach, im eigentlichen Sinne keinen Sex haben. „Ein Kuss ist vielleicht nicht die Wahrheit, aber er ist das, wovon man sich wünscht, dass es die Wahrheit wäre“, sagt in dem Film „L. A. Story“ der Schauspieler Steve Martin.
Kinder, die nie geküsst wurden, deren Eltern nie ihre Münder berührten, können seelisch krank werden – mangels Berührung, aus fehlendem Kontakt mit jener Körperöffnung, aus der eine vertraute Stimme kommt, die beruhigt oder alarmiert. Der Mund ist das Zentrum des sexualisierten Kontakts, eine Schaltzentrale des Haut-Ichs (Didier Anzieu). JedeR kennt es: Schmale, steife Lippen symbolisieren körperliches Desinteresse – Erotisierung hingegen lässt (nicht nur) den Mund sabbern und Lippen schwellen.
Tödliche Küsse
Menschen, die Homosexuelles nicht mögen, ja verabscheuen, sagen auf die Frage, was sie an zwei einander zugeneigten Männern oder Frauen denn so misslich finden, immer dies: Nicht die Vorstellung von dem, was jene in Schlafzimmern tun oder nicht, sondern dass sie sich küssen. Und insbesondere Männern gilt ihr Ekel: Münder von Männern, die sich zart nähern, aufeinander legen, mit Zungen spielen und so etwas hinbekommen wie ein erotisches Zeichen, das auf Symbiotisches deutet.
Und weil diese Geste so im Mittelpunkt der Aversion steht, gibt es bei der heutigen Christopher-Street-Day-Parade in Berlin ein Kiss-in – und zwar knapp zum Ende des Umzugs an der Siegessäule, nämlich am Holocaust-Stelenfeld. Dort gegenüber, im Tiergarten, soll eine einzige Stele an den nationalsozialistischen Terror gegen schwule Männer erinnern. Michael Elmgreen und Ingar Dragset, zwei Skandinavier, die in Berlin leben, haben diese Stele entworfen: In ihr sind durch ein Guckloch zwei sich neugierig wie hingebungsvoll küssende männliche Figuren zu sehen. Der Kuss als Provokation quasi – überliefert sind Geschichten von Rosa-Winkel-Opfern des NS-Regimes, die beim Küssen erwischt und (von Nachbarn, Passanten, Familienangehörigen) bei der Polizei oder der Gestapo verpetzt wurden.
Eine Signatur, die als Bedrohung über das braune Regime hinaus wahrgenommen wurde: Zwei gleichgeschlechtlich sich am Mund berührende Menschen als intim wirkendes Dementi der heterosexuellen Norm. Dragset wie Elmgreen hatten sich schon ihren quasi überhistorischen Teil gedacht, als sie ihren Vorschlag für eine Gedenkstele entwarfen: Zwei Homosexuelle dürfen sein, leben sie versteckt; küssen sie sich, obendrein öffentlich, findet Toleranz ihre Grenze.
Dass die Aktion, eingebettet in den CSD-Umzug, Zuspruch beim mitlaufenden Publikum finden würde, lag nicht so nahe. Die Politiker, die noch zur Mittagszeit – von der Union über die SPD bis zur Linkspartei – mit einer Schere den hauptstädtischen CSD eröffnen werden, haben ihre Teilnahme am Kiss-in offen gelassen. Vielleicht um – aus ihrer Sicht – verfänglichen Fotografien oder rüden Unterstellungen aus dem Weg zu gehen: Man möchte als liberal gelten, aber doch nicht die konservative Kundschaft verprellen.
Dabei ist doch in Berlin ohnehin alles so simpel. Ein Kiss-in in Stuttgart oder in Marktl am Inn oder in Altötting, in Rostock oder im Fränkischen würde vermutlich ein Stürmchen der Entrüstung auslösen. Eine Revolution hingegen gewiss im Kartoffelmilieu Polens – und gewiss in Riga, der Hauptstadt Lettlands. In den Dreißigerjahren noch eine Metropole der Boheme und des Freisinns, avanciert sie nun zur Festung der postsozialistischen Homophobie, im Bündnis mit dem katholischen Klerus. Der CSD wurde verboten. Er könnte die öffentliche Ruhe stören und sei mit der Moral des Landes nicht vereinbar.
Tatsächlich sind homosexuelle Touristen in dieser baltischen Republik vor rechten Schlägern nicht sicher; LettInnen kann ihrer (homo-)sexuellen Orientierung wegen gekündigt werden. Küssten sich zwei Schwule – was niemand dort öffentlich riskiert –, müssten sie mit Inhaftierung rechnen. Die Polizeien Osteuropas sind durch die Bank stets auf Seiten der Homophoben.
Osteuropas Moral?
Was spräche für die Regierung Angela Merkels dagegen, diese Freiheitsbeschneidungen in Brüssel zu thematisieren, Lettland (oder Polen, Litauen, Estland) beim Europäischen Gerichtshof anzuklagen?