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Archiv-Artikel

Könige und Krieger

In den Legenden der Sto:lo wimmelt es von moralischen Parabeln: Die Götter bestrafen Fehlverhalten, indem sie die Sünder in Stein verwandeln. So hat fast jeder Stein und jeder Berg in der Gegend um den Harrison Lake eine eigene Geschichte

VON THOMAS WINKLER

Seine Trommel hat Willie Charlie heute vergessen. Also muss es ausnahmsweise einmal auch ohne gehen. Aber gesungen wird, denn das Lied ist unverzichtbar, ist Teil einer uralten Tradition. Auch im Nieselregen, auch auf einem Boot auf einem klammen See begrüßt der Sto:lo seinen Gast mit für mitteleuropäische Ohren durchaus gewöhnungsbedürftigen Klängen.

Willie Charlie ist Eigentümer und einziger Angestellter, Geschichtenerzähler, Kapitän und Touristenführer von Sasquatch Tours. „Alles, was wir heute sehen werden“, warnt er uns, bevor er sein bis zu 12 Personen fassendes Motorboot auf den See hinaus steuert, „ist heilig für unser Volk.“ An den Ufern von Harrison Lake, dem größten See im Südwesten von British Columbia, und des Harrison River lebten dereinst, vor der Ankunft der Europäer, 24.000 Sto:lo. Nach den Pocken, nach Kriegen und Vertreibungen bleiben noch 2.000. Und fast so viele Geschichten, von denen auf einer Fahrt mit Sasquatch Tours einige erzählt werden. Es sind Geschichten von Unterwasservölkern, von Königen und Kriegern, Geschichten von schwimmenden Inseln, die so ausführlich sind, dass sie kaum ein Ende finden wollen. Und natürlich sind es auch Geschichten, in denen der Namensgeber von Willies Firma vorkommt: Der Sasquatch ist eine Art örtlicher Wolpertinger oder Yeti, eine mystische Figur, die immer mal wieder gesichtet wird. Auch Willies Bruder hat den Sasquatch schon gesehen, er selbst hat ihn nur einmal gehört, als er elf Jahre alt war: „Es war wie eine Mischung aus einer sehr hohen Frauenstimme und dem Heulen eines Wolfes.“

Die Geschichten, die Willie erzählt, sind nicht nur unterhaltsam. Es ist „oral history“, es ist die Geschichtsschreibung der Sto:lo. Das macht die Sasquatch Tours einzigartig. Zwar bieten auch andere Veranstalter Bootstouren über den See an, zeigen die drei Jahrtausende alten Ocker-Zeichnungen und die öffentlich zugänglichen Stätten der Sto:lo, aber niemand sonst erzählt die Geschichten, die zu den Orten gehören. Willie hat sie von seinem vor fünf Jahren verstorbenen Großvater gelernt, heute ist er selbst in der Schule des Stammes für den Geschichtsunterricht zuständig. „Solange diese Geschichten erzählt werden“, sagt er, „solange lebt unser Volk.“

Jede der Legenden ist aber auch eine moralische Parabel, die mit einer Transformation endet: Die Götter bestrafen Fehlverhalten, indem sie die Sünder in Stein verwandeln. So haben fast jeder Stein und fast jeder Berg in der Gegend eine eigene Geschichte, und jeder Ort, den Willie ansteuert, hat seine spirituelle Bedeutung.

Immer wieder hält das Boot, Willie deutet ans Ufer, und wenn er die Geschichte erzählt, beginnt sich aus dem leblosen Gestein tatsächlich ein Gesicht, eine Szene zu schälen.

Das kleine Unternehmen, von dem er seine Familie auch im dritten Jahr noch nicht ausschließlich ernähren kann, ist auch „ein Versuch, die heiligen Plätze zu schützen, indem wir sie der Welt zeigen und ihre Geschichten erzählen. Wenn sie öffentlich sind, können sie nicht so leicht zerstört werden.“ Viele der bis zu 7.000 Jahre alten sakralen Stätten sind in den letzten Jahrzehnten dem Fortschritt und der Umweltzerstörung zum Opfer gefallen. Trotzdem spricht sich Willie immer mit den Stammesältesten ab, ob er die Touristen an gewisse Orte führen darf. Die allermeisten der Rituale und Zeremonien des Stammes finden aber weiterhin an streng geheimen Orten und unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

„Es gibt Geschichtenerzähler“, grinst Willie, „die Tage erzählen können“, und man glaubt ihm, dass er notfalls dazu auch in der Lage wäre, aber die Tour über den Harrison Lake dauert nur zwei Stunden. „Eine Geschichte führt zur nächsten und die wieder zur nächsten, das geht zurück bis an den Anbeginn aller Zeiten.“ So lange reisen auch schon die Lachse den Fluss hinauf, um dort zu laichen. Auf dem Rückweg sterben die Fische vor Erschöpfung und werden tot ans Ufer getrieben. Zu Hunderten sitzen die Weißkopfseeadler entspannt in den Wipfeln der Bäume und warten darauf, dass die nächste Mahlzeit angeschwemmt wird.

Lachs dürften sich auch viele von Charlies Kunden schmecken lassen. Im Copper Room, dem Restaurant des am Ufer des Sees gelegenen Harrison Hot Springs Resort & Spa, wird zu gepflegten Cocktail-Jazz-Klängen einer Live- Band aber auch ein vorzüglicher Heilbutt serviert und zum Abschluss die vermutlich beste Crème brulée östlich von Vancouver. Wenn sie verdaut haben, das hat Ian Maw, der Marketingchef des Hotels, festgestellt, sind seine Gäste aufnahmefähig für die alten Legenden. Das Hotel stellt nicht nur in der Lobby indianisches Kunsthandwerk aus und ließ sich die Eingangstür zum Spa von einem indianischen Künstler gestalten, sondern vermittelt den Sasquatch Tours auch den Großteil der Kundschaft.

Perspektivisch, spekuliert der Marketingchef, könnten sogar noch mehr Sto:lo, womöglich der ganze Stamm vom Tourismus leben. „Noch mag der Markt eher klein sein“, sagt der Fachmann, „aber er wächst zweifellos. Es gibt allgemein ein immer größeres Interesse an der Kultur der Ureinwohner.“

www.sasquatchtours.com www.harrisonresort.com