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Archiv-Artikel

Von Gaza nach Beirut

Die Hisbollah hat Israel den perfekten Vorwand geliefert, den Libanon anzugreifen. Doch auch dieser Krieg wird nur zu einem weiteren fragilen Waffenstillstand führen

Der Krieg im Libanon mag dem Iran nützen. Aber die Hisbollah ist keine Marionette des iranischen RegimesIsrael verlangt, die libanesische Armee solle die Grenze kontrollieren. Das ist völlig illusorisch

Was hat sich Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah nur dabei gedacht, als er entschied, seine Miliz die Grenze zu Israel überqueren und eine Guerillaaktion durchführen zu lassen, die zum aktuellen Hexensabbat im Libanon geführt hat? Warum hat er es getan? Und warum zu diesem Zeitpunkt?

Jeder hält Nasrallah für eine kluge Person, er gilt als besonnen. Seit Jahren hat er einen großen Vorrat an Raketen aller Art angelegt, um eine Art Balance des Terrors herzustellen. Er wusste, dass die israelische Armee nur auf die Gelegenheit wartete, sie zu zerstören. Trotzdem hat er eine Provokation riskiert, die der israelischen Regierung den perfekten Vorwand lieferte, den Libanon anzugreifen – mit dem vollen Einverständnis der Weltgemeinschaft. Warum?

Möglicherweise war er vom Iran und von Syrien, die ihn mit Raketen ausstatten, aufgefordert worden, etwas zu tun, um den amerikanischen Druck von ihnen abzulenken. Und tatsächlich hat die plötzliche Krise die Aufmerksamkeit von den iranischen Bemühungen im Nuklearbereich abgelenkt. Es scheint sogar, als habe sich Bushs Haltung gegenüber Syrien verändert.

Aber Nasrallah ist weit davon entfernt, eine Marionette des Iran oder von Syrien zu sein. Er führt eine nationale libanesische Bewegung an und wägt sein eigenes Für und Wider ab. Wenn er vom Iran oder von Syrien gefragt worden wäre, etwas zu tun – wofür es keinen Beweis gibt –, und er gesehen hätte, dass dies nicht mit den Zielen seiner Bewegung übereinstimmt, dann hätte er es nicht getan.

Vielleicht hat er aus innerpolitischen Gründen gehandelt. Das politische System im Libanon war stabiler geworden, und es war nun schwieriger, den militärischen Arm der Hisbollah zu rechtfertigen. Ein neuer bewaffneter Vorfall hätte helfen können. (Solche Überlegungen sind uns selbst keineswegs fremd, besonders nicht vor Budgetdebatten.) Aber all dies erklärt nicht den Zeitpunkt. Nasrallah hätte einen Monat vorher oder einen Monat später handeln können, ein Jahr früher oder später. Es muss einen triftigeren Grund gegeben haben, der ihn davon überzeugte, genau jetzt in solch ein Abenteuer zu schlittern. Und diesen Grund gab es: die Lage in Palästina.

Vor zwei Wochen hat die israelische Armee einen Krieg gegen die Bevölkerung des Gaza-Streifens begonnen. Auch dort bot eine Guerillaaktion, in der ein israelischer Soldat gefangen genommen wurde, den Vorwand. Die israelische Regierung packte die Gelegenheit beim Schopf und führte einen seit langem vorbereiteten Plan aus: den Widerstandswillen der Palästinenser zu brechen und die neu gewählte palästinensische Regierung zu zerstören, die von der Hamas dominiert wird. Und natürlich auch, um die Kassam-Raketen von dort zu stoppen.

Die Operation im Gaza-Streifen ist eine besonders brutale. Schreckliche Bilder erscheinen täglich und stündlich von dort in den arabischen Medien. Tote, Verletzte, Zerstörung. Wassermangel, fehlende Medikamente für die Verwundeten und Kranken. Ganze Familien getötet. Kinder schreien in Agonie. Mütter weinen. Gebäude stürzen in sich zusammen.

Die arabischen Regime, die alle von Amerika abhängig sind, kommen nicht zu Hilfe. Da sie alle von islamischen Oppositionsbewegungen bedroht sind, betrachten sie mit einiger Schadenfreude, was mit der Hamas geschieht. Aber auch zehn Millionen Araber vom Atlantik bis zum Persischen Golf schauen zu. Sie werden über ihre Regierung wütend und rufen nach einem Führer, der den Brüdern in Palästina zu Hilfe eilt. Vor einer Woche sah sich Nasrallah vor diese Versuchung gestellt. Er forderte Israel und indirekt auch die USA und die gesamte westliche Welt heraus. Er begann den Angriff ohne Verbündete und wusste, dass weder der Iran noch Syrien es riskieren würden, ihm zu helfen.

Vielleicht wird er fortgerissen wie Abdel-Nasser und Saddam Hussein vor ihm. Vielleicht hat er die Gewalt des Gegenangriffs, den er erwartete, unterschätzt. Vielleicht glaubte er wirklich, dass unter dem Gewicht seiner Katjuscha-Raketen Israels Etappe zusammenbrechen würde (so wie die israelische Armee glaubte, die israelische Zerstörung würde das palästinensische Volk im Gaza-Streifen und die Schiiten im Libanon zerbrechen). Aber eines ist klar: Nasrallah hätte diese Gewaltspirale nicht begonnen, wenn die Palästinenser ihn nicht um Beistand gebeten hätten. Aus kühler Berechnung, aus wahrer moralischer Entrüstung oder wegen beidem, Nasrallah eilte zur Rettung des belagerten Palästinas.

Die israelische Reaktion hätte man erwarten können. Seit Jahren warten die Armeekommandeure auf eine Gelegenheit, das Raketenarsenal der Hisbollah zu vernichten und diese Organisation zu zerstören oder sie wenigstens zu entwaffnen und sie sehr weit weg von der israelischen Grenze zu befördern. Sie versuchten dies auf die einzige ihnen bekannte Weise: durch weit reichende Zerstörung, damit die libanesische Bevölkerung aufsteht und die Regierung zwingt, Israels Forderungen zu erfüllen. Aber geht das überhaupt?

Die Hisbollah ist die authentische Vertretung der schiitischen Gemeinschaft, die etwa 40 Prozent der libanesischen Bevölkerung ausmacht. Zusammen mit den andern Muslimen bilden sie die Mehrheit im Land. Der Gedanke, dass die schwächliche libanesische Regierung, die auf jeden Fall auch die Hisbollah einschließt, in der Lage wäre, diese Organisation zu liquidieren, ist lächerlich. – Israels Regierung verlangt, die libanesische Armee solle an der Grenze entlang aufmarschieren. Dies ist jetzt zu einem Mantra geworden. Es zeugt von totaler Ignoranz. Die Schiiten haben bedeutende Positionen in der libanesischen Armee inne. So gibt es nicht den Hauch einer Chance, dass sie einen Bruderkrieg beginnen werden.

Im Ausland nimmt ein anderer Gedanke Gestalt an: Eine internationale Truppe sollte entlang der israelisch-libanesischen Grenze aufgestellt werden. Die israelische Regierung ist strikt dagegen. Eine wirklich internationale Truppe – nicht wie die unglückliche Unifil, die seit Jahrzehnten dort ist – würde die israelische Armee daran hindern, das zu tun, was sie will. Außerdem: Sollte sie dort ohne das Einverständnis der Hisbollah aufgestellt werden, würde ein neuer Guerillakrieg beginnen. Würde solch einer Truppe – ohne wirkliche Motivation – das gelingen, was der mächtigen israelischen Armee nicht gelungen ist?

Dieser Krieg mit seinen hunderten von Toten und Wellen der Zerstörung wird höchstens zu einem anderen fragilen Waffenstillstand führen. Die israelische Armee wird den Sieg ausrufen und behaupten, sie habe die „Spielregeln“ verändert. Nasrallah (oder seine Nachfolger) werden behaupten, ihre kleine Organisation habe sich gegen eine der mächtigsten Militärmaschinen der Welt erhoben und ein weiteres leuchtendes Kapitel über Heldentum in die Annalen der arabisch-muslimischen Geschichte geschrieben. Aber es wird keine richtige Lösung geben, weil die Wurzel des Übels nicht angegangen wird: das palästinensische Problem.

URI AVNERY