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Archiv-Artikel

Nach dem Spiel ist vor dem Ziel

VON HENK RAIJER

Jens hält seinen Kasten sauber. Nur der Staub, den er durch seine Paraden im Torraum verursacht, zieht an ihm vorbei und löst sich erst in den Eisenverstrebungen hinter der Linie wieder auf. Die fünf Männer, die ihm im Sekundentakt die Bälle aufs Tor hämmern, haben sich wegen der sengenden Hitze auf dem Bolzplatz bis auf kurze Hosen und Schuhe entblößt, die Nummer Eins jedoch hält in vollem Ornat.

In der Grünanlage am Herforder Stadtrand trainiert wie jeden Donnerstag die Straßenkickertruppe „Sozialgrätsche Herford“, die Freizeitmannschaft vom Sozialberatungsdienst der Evangelischen Diakoniestiftung. Fünf bis zehn Spieler finden sich in der Regel am Nachmittag hier ein. „Leider nicht immer dieselben“, bedauert Coach Jan Buschschlüter, der als Sozialpädagoge beim Sozialberatungsdienst arbeitet und das Team als therapeutischen Anreiz für Klienten der Diakoniestiftung ins Leben gerufen hat. Jens Grospitz fehlt nie. Er lässt kein Training aus, rührt keinen Alkohol mehr an und behält während des Spiels die Fluppen in der Tasche. Grospitz bringt sich in Form. Der 25-Jährige weiß, wofür er sich schindet: Jens aus Herford hält für Deutschland.

Seit seinem Auftritt bei der deutschen Meisterschaft im Streetsoccer Anfang Juni auf dem Kieler Bahnhofsvorplatz ist Jens Grospitz im Kader der Nationalmannschaft der Wohnungslosen. Und die fährt in Kürze zur WM nach Südafrika. Acht junge Deutsche in schwieriger sozialer Situation nehmen vom 24. bis 30. September am „Homeless World Cup“ in Kapstadt teil. Rund 500 Spieler aus 48 Ländern tragen hier nach Graz (2003), Göteborg (2004) und Edinburgh (2005) die vierte WM der Wohnungslosen aus. Gespielt werden zwei Mal sieben Minuten auf einem 18 x 14 Meter großen Spielfeld ohne Abseitsregel. Organisiert wird das Projekt mit finanzieller Unterstützung durch UEFA und UNO vom Internationalen Netzwerk der Straßenzeitungen (INSP). Ziel ist es, sozial Benachteiligte und Arme positiv, zumindest aber vorurteilsfrei, in das Bewusstsein der Öffentlichkeit zu rücken.

Zu den Chancen des deutschen Teams bemerkte jüngst Beatrice Gerst, die Vorsitzende des Bundesverbandes soziale Straßenzeitungen: „Auch wenn wir wissen, dass das wesentliche Ziel des Homeless World Cup in der Persönlichkeitsentwicklung der beteiligten Spieler liegt, so hoffen wir doch auch auf ein gutes sportliches Abschneiden.“

Am deutschen Schlussmann soll‘s nicht scheitern. Jens Grospitz ist hoch motiviert. Wahrscheinlich mehr denn je zuvor in seinem Leben. Auch wenn er seine Nominierung noch nicht so ganz verarbeitet hat. „Ich kann das noch gar nicht richtig fassen“, erzählt Grospitz nach dem Training im Gesprächsraum des Sozialberatungsdienstes. Zum ersten Mal in seinem Leben verspüre er, wie er sagt, „den richtigen Schwung“, etwas aus seinem Leben zu machen. Etwas, das über einen Gelegenheitsjob hinaus geht, das seiner eigenen Kleinfamilie eine Perspektive bietet, das mehr ist als das eingefahrene Stelldichein mit Freunden und einem Kasten Hansa vor dem Aldi morgens um elf.

Unter falschen Freunden

Fußball hat immer eine Rolle gespielt im Leben von Jens Grospitz – Wichtigeres hingegen eher weniger. Der junge Mann, der sich mit Freundin Sabrina mal gut versteht und mit ihr zusammenlebt, mal eher nicht und dann ohne Bleibe ist und beim Sozialberatungsdienst ein- und ausgeht, hat außer Fußballspielen nie etwas gelernt. Und er hat es größtenteils selbst verbockt. „In der Schule war ich faul“, gesteht Grospitz, ein schlanker Mittzwanziger in Flecktarn-Hosen und blendend weißem T-Shirt. „Nichts gemacht, einfach keinen Bock drauf“, erzählt er, während er mit den gespreizten Fingern seiner rechten Hand das voluminöse Tattoo am linken Oberarm streichelt. Zwar habe er seinen Hauptschulabschluss gemacht, aber nur „mit Mühe und Not“.

Von zu Hause ausgezogen ist Jens Grospitz schon mit Fünfzehn. Die ständigen Querelen mit seinem Vater, der nach zehnjähriger Trennung zu seiner Frau zurück gekehrt war, seien ihm auf den Geist gegangen, sagt er. Eine Ausbildung zum Bau- und Kunstglaser bricht er nach drei Monaten „wegen Differenzen mit dem Chef“ wieder ab, lebt kurzzeitig im Jugendheim, hängt ab mit den Kumpels, guckt Fernsehen und spielt Fußball beim VFL Herford. Mit 17 geht er als Zeitsoldat zum Bund, doch als seiner Düsseldorfer Fernmeldeeinheit nach knapp zwei Jahren Auslandseinsätze drohen, schmeißt er den Job. „Ob es Angst gewesen ist oder mir dort nur langweilig war, weiß ich nicht mehr so genau“, versucht er eine Erklärung für sein damaliges Aufgeben.

Weil ihn nichts zurück nach Herford zieht, bleibt er im Rheinland hängen, lässt sich von Zeitarbeitsfirmen kleine Jobs in Essen und dem Sauerland vermitteln und lernt die „falschen Freunde“ kennen, wie er heute sagt. Komasaufen ist angesagt in den rechten Kreisen, in die der Jugendliche geraten ist. „Es fing immer an mit ein paar Kästen Hansa vorm Aldi“, erinnert sich Grospitz. „Irgendwann hat einer angefangen, Passanten anzupöbeln, Türken in ihren Dönerbuden zu bedrohen“, erzählt er. „Die Leute hatten Angst vor uns, wechselten die Straßenseite. Ich fand das eine Weile ziemlich aufregend, aber irgendwann wurde mir das zu gewalttätig.“ Schließlich habe er dann der Gruppe und „denen von der NPD“, die immer wieder Verbindung aufnahmen, gesagt, was ihm nicht passt. „Da haben sie sich von mir abgewandt.“

Mit 21 Jahren zurück in Herford sucht Jens Grospitz wegen akuter Arbeits- und Wohnungslosigkeit den Kontakt zum Sozialberatungsdienst. Nach einem Jahr stationärer Hilfe lebt er gut zweieinhalb Jahre selbstständig, am Ende auch mit Freundin Sabrina zusammen. Arbeit haben beide nicht, sie bekommen eine Tochter, die heute knapp zwei Jahre alt ist. 2005 trennt sich das Paar, Jens Grospitz steht erneut auf der Straße, die Arbeitsagentur meint, für eine Ausbildung sei er zu alt. „Unsere Leute kommen immer als letzte dran“, weiß Jutta Henke aus langjähriger Erfahrung. 90 Prozent der Klienten, die in die Beratung kämen, seien arbeitslos und würden fast ausschließlich in Ein-Euro-Jobs vermittelt, sagt die Leiterin des Herforder Sozialberatungsdienstes. An die 500 Klienten beraten sie und ihre 30 Mitarbeiter jährlich in Einkommens- und Wohnungsfragen, halten den Kontakt zur ARGE, erinnern die Leute an wichtige Termine mit dem Fallmanager und tun auch sonst Vieles, um Dauerkunden wie Jens Grospitz in die Spur zu kriegen.

Keine Säufertruppe

Und dazu gehört eben auch der Fußball. Vor vier Jahren hat Jan Buschschlüter das Angebot ins Leben gerufen. Der Mitarbeiter des Sozialberatungsdienstes, der seine „Sozialgrätsche Herford“ schon mal gegen eine JVA-Auswahl antreten lässt, weiß um den Sport als erfolgreiche Strategie zur sozialen Integration. Außerdem schaffe Fußball eine gute Kommunikationsbasis für Sozialarbeiter. Es sei allerdings schwer, die Leute bei der Stange zu halten. „Leute mit Drogen- und Alkoholproblemen tun sich nun mal schwer mit verbindlichen Terminen“, so Buschschlüter, der auch Grospitz betreut. Dienstleiterin Henke freut sich, dass ihre Einrichtung durch dessen WM-Teilnahme mal mit etwas Positivem in Verbindung gebracht wird: „Jens bringt ein wenig Glanz in unsere Hütte.“

Der Nationaltorwart weiß, dass das Unternehmen WM nicht nur Leistungsbereitschaft, sondern auch Disziplin und Charakter verlangt. Jens Grospitz, der Ende 2005 wegen einer nicht bezahlten Geldstrafe zwei Monate im Gefängnis war und wegen Betrügereien gerade wieder acht Monate auf Bewährung aufgebrummt bekam, nimmt es sehr ernst, dass er demnächst in Kapstadt den Bundesadler auf der Brust tragen wird. Er versteht den Bundestrainer, der auf eine Säufertruppe, für die das Turnier zweitrangig ist, keine Lust hat.

Jens Grospitz begreift seine WM-Teilnahme als Chance für einen Neuanfang. Im Januar will er den LKW-Führerschein machen und Arbeit finden. Und es auch wieder mit seiner Sabrina versuchen, die vor gut vier Monaten das zweite gemeinsame Kind zur Welt gebracht hat. Es sei an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen, sagt er und schaut dabei Jan Buschschlüter und Jutta Henke ein wenig unsicher an. Dann lacht er und flachst: „Aber erstmal erwarte ich bei meiner Rückkehr einen Staatsempfang.“