pynchon, geheimnis etc.
: Wirklichkeit nachjustieren

Es hatte selbst etwas äußerst Pynchoeskes, wie der geheimnisvollste amerikanische Schriftsteller seiner geneigten Leserschaft vergangene Woche das Erscheinen eines neuen Romans ankündigte. „Angesiedelt in der Zeit zwischen der Weltausstellung von Chicago 1893 und den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg, bewegt sich dieser Roman von den Arbeitskämpfen in Colorado über das New York der Jahrhundertwende nach London und Göttingen, Venedig und Wien, auf den Balkan, nach Zentralasien, Sibirien zur Zeit der geheimnisvollen Vorkommnisse von Tunguska, nach Mexiko während der Revolution, ins Nachkriegsparis, das Hollywood der Stummfilmära und ein paar Orte, die auf keiner Karte zu finden sind.“ So hob ein Brief an, der – namentlich mit Thomas Pynchon unterzeichnet – auf einer Bestellseite des Online-Buchhändlers Amazon auftauchte. Nebst Preis (22 Dollar), Seitenzahl (992) und Erscheinungstermin (5. Dezember). Und kaum war die Seite da, war sie auch schon wieder verschwunden (und kurze Zeit später wieder da, nun sogar mit Angabe des Titels: „Against The Day“ soll das Werk heißen).

War er es wirklich? Hatte er sich aus der Deckung gewagt (zum ersten Mal seit der Episode der „Simpsons“, wo eine Figur mit einer Papiertüte über dem Kopf als „Thomas Pynchon“ durch Springfield läuft und gerüchteweise von Pynchon selbst gesprochen worden sein soll)?

„Es wirken mit: Anarchisten, Ballonfahrer, Spieler, Industriekapitäne, Drogenenthusiasten, Unschuldige und Dekadente, Mathematiker, verrückte Wissenschaftler, Schamanen, Psychotiker, Zauberkünstler, Spione, Detektive, Abenteuerinnen und Auftragskiller“, das liest sich tatsächlich wie der Durchschnitts-Cast aller Pynchon-Romane. Und hatte Michael Naumann, Pynchons alter Verleger, vor sechs Jahren nicht schon angedeutet, der Meister arbeite an einem Roman über eine russische Abenteurerin, die Anfang des 20. Jahrhunderts bei David Hilbert in Göttingen Mathematik studiert? Was würde besser als Schlussstein zwischen „Mason & Dixon“ und „Die Enden der Parabel“ passen, als letzter Teil dieser Gegengeschichte der Aufklärung?

Wie auch immer es zu diesem Brief gekommen sein mag – Abstimmungsprobleme zwischen dem Autor und seinem Verlag?, ein großer Pynchonspaß?, gar in Zusammenarbeit mit einem Programmierer?: Für den Umstand, dass es hier mit rechten Dingen zugeht und am 5. Dezember tatsächlich ein 992 Seiten dickes Buch mit dem Titel „Against The Day“ erscheint, spricht vor allem der Schluss des Briefs, der elegant Pynchons Poetologie mit dem Brief selbst verkoppelt. „Wenn dies schon nicht die Welt ist, so könnte sie es mit einer oder zwei Nachjustierungen zumindest sein. Manche glauben, das sei einer der Hauptzwecke von Literatur.“ TOBIAS RAPP