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Archiv-Artikel

Schulverbot für Mädchen

von SVEN HANSEN

Am Schultor haben die Attentäter einen Zettel hinterlassen. Aus dem von ihnen in Brand gesteckten Gebäude steigt Rauch auf. Die vier bewaffneten Männer drohen wiederzukommen. Jeder Lehrer, der weiter unterrichtet, wird ermordet, steht auf dem Zettel. Es ist der 30. Mai in Grup Schasch, einem Ort in der südafghanischen Provinz Helmand – der Tag, an dem die Kinder aufhörten, die Mittelschule zu besuchen.

Und das nicht nur in Grup Schasch. Die Menschenrechtsgruppe Human Rights Watch hat 165 Fälle allein in Helmand gezählt, in denen nach Drohungen, Gewalt und Zerstörungen eine Schule geschlossen wurde. Über den Süden hinaus sind es in ganz Afghanistan 204 Fälle seit Anfang 2005. Die Täter sind hauptsächlich Taliban. Den Radikalislamisten sind außer Koranschulen alle Lehrstätten ein Dorn im Auge, vor allem für Mädchen. Ihnen war während der bis 2001 andauernden Taliban-Herrschaft der Schulbesuch ganz verboten. Aber nicht nur deshalb gibt es so viele Anschläge auf Schulen. Im unruhigen Süden hat der afghanische Staat meist keine anderen Außenposten, Schulen sind „weiche“ Ziele.

Einen Angriff pro Tag

„Wir haben im Schnitt einen Angriff auf eine Schule pro Tag“, sagte der UN-Sondergesandte für Afghanistan, Tom Koenigs, kürzlich der Presse in Kabul. Der frühere Grünen-Politiker schlägt Alarm: „Wenn wir gedacht haben, die Taliban erholen sich nicht von ihrer Niederlage 2001, haben wir uns geirrt. Sie haben sich erholt und bekommen dabei Hilfe von internationalen Terrornetzwerken.“

Laut Koenigs wurde die Lage noch vor sechs Monaten falsch eingeschätzt. Er bestätigt indirekt, dass bei Kämpfen mit mutmaßlichen Taliban allein in den letzten zwei Monaten 600 Menschen starben. Mit der Offensive „Mountain Thrust“ versuchen seit Mai 10.000 Soldaten aus den USA, Kanada, Großbritannien und Afghanistan die Taliban im Süden wieder zurückzudrängen.

Landesweit starben seit Jahresbeginn rund 1.300 Menschen bei Kämpfen und Anschlägen, darunter laut der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission mehr als 600 Zivilisten. Die Bevölkerung gerät zwischen die Fronten: Sie wird von den Taliban bedroht, wenn sie ihnen nicht hilft. Macht sie dies, drohen Luftangriffe der Antiterrorkoalition.

Neuformation in Pakistan

„Die Taliban hätten sich nicht als militärische Kraft regenerieren können, wenn sie nicht das Territorium und die Finanzen dafür gehabt hätten“, sagt Koenigs mit Blick auf den Nachbarn Pakistan. Die Regierung in Islamabad bestreitet dies und sagt, sie sei selbst mit 80.000 Soldaten im Grenzgebiet aktiv. Erstmals wurden dort letzte Woche 200 Taliban festgenommen.

Der Militärführer der Taliban in Südafghanistan, Mullah Mohammed Daudullah Achund, behauptet, in den vier Provinzen Kandahar, Helmand, Urusgan und Sabul über 12.000 Kämpfer zu verfügen und 20 Distrikte zu kontrollieren. Die Zahl der Kämpfer mag zu hoch beziffert sein, doch klar ist, dass Regierung und internationale Truppen die Region nicht kontrollieren.

Seit diesem Frühjahr sollen eigentlich 3.300 britische Soldaten im Rahmen der Ausdehnung der Nato-geführten Friedenstruppe Isaf in den Süden in Helmand für Sicherheit sorgen. Aus der an Pakistans Unruheregion Balutschistan grenzenden Provinz kommt ein Drittel der Weltopiumproduktion. Jetzt wird eine Rekordernte erwartet.

Die britisch-französische Organisation Senlis Council nennt die bisherige Drogenbekämpfungspolitik „kontraproduktiv“ für die Sicherheit im Süden Afghanistans. „Die Drogenbekämpfung treibt die Bauern in die Arme der Taliban“, weil sie ohne Alternativangebote erfolge. „Die meisten Bauern fühlen sich von der Regierung und der internationalen Gemeinschaft betrogen“, sagt Emannuel Reinert von Senlis.

Der frühere britische Verteidigungsminister John Reid, der die Truppenentsendungen nach Helmand einfädelte, hatte noch gehofft, der Einsatz könne „ohne einen Schuss abzufeuern“ ablaufen. Jetzt ist es ein Kampfeinsatz. In vier Wochen verloren die Briten schon sechs Soldaten. Vor einer Woche berichtete das britische Militär von einem Posten in Nawsad, der in 18 Tagen 27-mal attackiert wurde. London will jetzt seine Truppen in Helmand um weitere 900 Soldaten verstärken.

US-Militärs hatten die Zunahme der Angriffe der Taliban lange als „Verzweiflungstaten“ und „typische Frühjahrsoffensive“ abgetan. Inzwischen räumen sie aber ein, dass die Gotteskrieger stärker sind als je nach 2001. Laut dem pensionierten US-General Barry McCaffrey, der jüngst das militärische Kräfteverhältnis in Afghanistan untersuchte, operieren die Taliban inzwischen in Batallionsgröße (mehr als 400 Kämpfer), nachdem sie 2005 noch in Kompagniegröße (100 Kämpfer und mehr) auftraten. McCaffrey nennt sie „sehr aggressiv und schlau in ihren Taktiken“.

Beunruhigend ist die Anwendung aus dem Irak bekannter Methoden wie Selbstmordattentate und ferngezündete Sprengsätze. „Afghanistan und die arabische Welt haben getauscht: Während vor dem 11. September arabische Gotteskrieger in Afghanistan eine Basis des Terrorismus schufen, liefert der Krieg im Irak jetzt einen Trainingsort und Experimente für neue Taktiken, die nach Afghanistan gelangen“, schreibt der Afghanistanexperte Barnett Rubin von der New York University in einer Studie. In den letzten zehn Monaten gab es 46 Selbstmordattentate gegenüber fünf in den fünf Jahren zuvor.

Der Irakkrieg ist auch dafür verantwortlich, dass die erst im Frühjahr begonnene Ausweitung des internationalen Truppeneinsatzes in den Süden und die gleichzeitige Aufstockung der Isaf auf 19.000 Soldaten viel zu spät erfolgt. Erst war die US-Regierung dagegen, die Isaf-Truppe über Kabul hinaus operieren zu lassen. Washington hatte zunächst sogar geglaubt, in Afghanistan auf „Nation-Building“ verzichten zu können. Um dann in größeren Städten das Bedürfnis nach mehr Sicherheit zu erfüllen, wurde 2003 das Konzept der bewaffneten Wiederaufbauteams (PRT) entwickelt, in denen Soldaten auch Aufbaufunktionen übernehmen.

Angesichts der täglichen Angriffe auf die Isaf-Soldaten im Süden ist fraglich, ob der PRT-Ansatz dort in absehbarer Zeit überhaupt funktionieren kann. Vielmehr haben die Koalitionstruppen dort zurzeit nur Dank massiver Luftunterstützung die Oberhand. Die Taliban erleiden zwar hohe Verluste, doch muss sich Isaf vorwerfen lassen, dabei unschuldige Zivilisten zu bombardieren. So stellte vergangene Woche eine von Kabul in Auftrag gegebene Untersuchung fest, dass bei einem Angriff am 10. Juli in der Provinz Urusgan nicht nur 50 mutmaßliche Taliban getötet wurden, sondern auch zehn Zivilisten starben und weitere 27 verletzt wurden, die meisten Frauen und Kinder. Das lässt die Isaf-Streitkräfte als rücksichtslose Besatzer erscheinen, treibt den Taliban Unterstützer zu und unterminiert das Ansehen der prowestlichen Regierung von Präsident Hamid Karsai.

Karsai unbeliebt wie nie

Offiziell zielt der Einsatz im Süden darauf, den Einfluss der Karsai-Regierung dort auszudehnen. Doch dies geschieht zu einer Zeit, in der Karsai und „der Westen“ so unbeliebt sind wie noch nie seit Ende 2001. Im Süden ist von der internationalen Milliardenhilfe kaum etwas angekommen, was den verbreiteten Korruptionsvorwürfen Nahrung gibt. Wegen der prekären Sicherheitslage arbeiten im Süden ohnehin keine internationalen Helfer mehr.

„In den letzten fünf Jahren seit der US-Invasion wurde nicht ein Staudamm, ein Kraftwerk oder größeres Wasserversorgungssystem gebaut, nur eine Überlandstraße fertig gestellt“, bilanziert der pakistanische Journalist und Afghanistankenner Ahmed Raschid. Die Anschläge auf ausländische Soldaten und Hilfsorganisationen nehmen auch im relativ sicheren Norden oder in der Hauptstadt Kabul zu. Die Enttäuschung entlud sich Ende Mai in Kabul, als es nach dem Verkehrsunfall eines US-Militärlasters zu Unruhen mit 20 Toten kam. Demonstranten forderten erstmals „Tod für Karsai!“.

Zwar haben die Taliban noch längst nicht die Fähigkeit, das Land zu kontrollieren. Doch sie können die Mühen von Regierung und internationaler Gemeinschaft immer besser vereiteln. Das Bildungssystem haben sie bereits lahmgelegt: Schon im vergangenen Schuljahr waren in Helmand nur noch sechs Prozent aller Schüler weiblich. Und landesweit, so Human Rights Watch, gibt es inzwischen nicht mal mehr in einem Drittel aller Distrikte Mädchenschulen.