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Archiv-Artikel

„Dienstleistungssystem“ für Karaoke in China

Damit Chinesen künftig nur noch anständige Karaoke-Lieder singen, führt die Regierung in Peking eine offizielle Datenbank zugelassener Titel namens „Nationales Management Dienstleistungssystem für Karaoke-Inhalte“ ein

PEKING taz ■ Liebespaare tun es, Greise, Studierende, Freunde und Arbeitskollegen auch: Karaoke gehört zu den beliebtesten Freizeitvergnügungen in China. Die in Japan erfundene Mode, populäre Lieder in ein Mikrofon zu schmettern, während auf dem TV-Bildschirm ein Filmchen dazu läuft und der Text erscheint, hat längst die hintersten Winkel der Volksrepublik erreicht. Kaum ein Hotel, kaum ein Restaurant und kaum eine Bar ohne „KTV“, wie die Chinesen Karaoke nennen. Nur ein paar Euro für einen ganzen Abend kostet der Spaß im großen Karaokesaal oder intimen Separée, den sich jedes Jahr Millionen Chinesen gönnen.

Im südlichen Perlflussdelta – der so genannten Werkstatt der Welt – stehen Karaokeanlagen für Wanderarbeiter sogar auf der Straße. Selbst schüchterne oder unmusikalische Zeitgenossen können für Minuten davon träumen, ein Schlagerstar zu sein.

In den Augen von Chinas Kulturbehörden hat die Karaokemanie jedoch einen Mangel: Niemand kontrollierte bisher, was gesungen wurde. Das soll sich nun ändern. Nach neuen Vorschriften, die zunächst in den drei Millionenstädten Wuhan, Zhengzhou und Qingdao ausprobiert werden, dürfen nur noch zentral zugelassene Titel auf den Liederlisten erscheinen.

„Nationales Management Dienstleistungssystem für Karaoke-Inhalte“ heißt diese neue Datenbank der offiziell genehmen Songs. Sie wird vom „Zentrum für die Kulturmarktentwicklung“ verwaltet, das dem Kultusministerium untersteht, wie Chinas Medien jetzt berichteten. Damit wenden sich die Zensoren, die schon alle anderen Medien prüfen, neuen Aufgaben zu: Sie wollen ihre Landsleute auch in Bars vor ungesunden Inhalten schützen, sagt Liang Gang vom Zentrum für die Kulturmarktentwicklung: „Alle Lieder in der Datenbank für Karaokehallen und Konsumenten müssen zensiert werden.“

Nach welchen Kriterien zwischen „gesunder“ und „ungesunder“ Musik unterschieden wird, ist aber noch nicht klar. In der Vergangenheit erregten sexuell freizügige oder als aufrührerisch empfundene Texte den Unmut der Sittenwächter: Als die Rolling Stones in Schanghai auftraten, mussten sie Titel wie „Let’s Spend the Night Together“ oder „Honky Tonk Woman“ aus ihrem Programm streichen.

Die neue Datenbank soll dabei helfen, den Anstand in den KTV-Separées zu wahren – zumindest musikalisch. Das Verzeichnis des genehmen Liedgutes soll aber auch Lizenz- und Urheberrechte von chinesischen und internationalen Musikern und Firmen schützen, versichern die Zensoren. Das Karaokegeschäft bringt jährlich umgerechnet mehrere Milliarden Euro ein, von denen die Schöpfer der Songs gewöhnlich keinen Cent sehen.

Dass sich Chinas Karaokeliebhaber, die gern die neuesten asiatischen Hits trällern, ihren Geschmack von den Kulturbürokraten vorschreiben lassen, ist zu bezweifeln. Im Internet und in vielen Zeitungen reagierten Kommentatoren bissig. Sogar die amtliche China Daily sah in Anspielung auf den „Big Brother“ George Orwells in der Karaokebar einen unsichtbaren „großen Bruder“ mit auf dem Sofa.

Es sei zu fürchten, dass die Beamten „wortgewaltige Arien“ ins Karaokesystem drückten, so der Kommentator, aber Lieder, „die private Gefühle wie Angst und Frust“ äußerten, nicht mehr zulassen würden. JUTTA LIETSCH