: Ehrenamtlerin auf Lebenszeit
VON HENK RAIJER
Mechtild Kappetein bemerkt die plötzliche Bedrückung bei Claire und Johnny Anastas mit Sorge. Die nahende Rückkehr in die Heimat hängt wie ein Damoklesschwert über der Familie aus Bethlehem. Seit Tagen überschattet das israelische Dauerbombardement des Libanon den bislang unbeschwerten Besuch der Palästinenser im Haus der Kappeteins in Aachen-Kornelimünster. Was, wenn nach der Landung in Amman die Allenby-Brücke über den Jordan geschlossen ist, sie nicht nach Hause in die Westbank können, ohne Geld und ohne Visum dastehen?
Nur noch wenige Tage, dann sind die drei Wochen Urlaub vorbei, die die sechsköpfige Familie bei Mechtild und Johannes Kappetein sowie deren Freunden in Berlin verbracht haben wird. Drei Wochen ohne die ständige Sorge ums Überleben, ohne Grenzschikanen, ohne die Mauer. Am liebsten würde sie ihren Reisepass zerreißen und bleiben, sagt Claire Anastas (39) mit Tränen in den Augen. „Mechtild, wir leben in einem Grab“, hat der achtjährige Daniel seiner Gastgeberin noch am Vortag erzählt. Es fehle nur der Deckel, merkt seine Mutter Claire Anastas an: „Sie töten uns schleichend.“
Gedanken an „sie“ und ihren Krieg gegen die radikal-islamische Hisbollah lassen sich auch im Urlaub in Aachen nicht abschütteln. Dennoch halten sich Claire Anastas und ihr Mann Johnny (43) mit all zu deutlicher Kritik an Israel eher zurück – zu sehr sind die beiden palästinensischen Christen auch fern der Heimat mit der eigenen, scheinbar ausweglosen Situation beschäftigt und fürchten nur noch schlimmere Repressalien der israelischen Behörden.
Mechtild Kappetein weiß um die prekären Lebensumstände ihrer Gastfamilie. „Ich bin keine Nahostexpertin“, sagt die 59-Jährige, die im Rahmen des Ökumenischen Freiwilligendienstes vor kurzem vier Monate als Friedensfachkraft in Bethlehem verbracht hat und dort Claire Anastas kennen lernte. „Aber man braucht sich doch nur die Landkarte anzuschauen. Wie soll denn da ein palästinensischer Staat entstehen“, sagt die Soziologin und schüttelt missmutig den Kopf. „Je länger ich da war, desto hoffnungsloser wurde ich.“
Wo die Anastas‘ noch vor kurzem freie Sicht auf Olivenbäume hatten, steht heute eine neun Meter hohe Mauer, mit der sich Israel gegen die Palästinenser abschottet. Durch den Grenzverlauf in Bethlehem ist das zweistöckige Haus der Familie an drei Seiten von dem Betonungeheuer umschlossen, Sonnenlicht dringt nicht mal mehr in die obere Etage ein. Die Anastas‘ leben wie in einem Gefängnishof.
Und das ohne Arbeit und ohne Einkommen. Seit Beginn der zweiten Intifada im Jahre 2000 haben in der früher so belebten Touristenstadt die meisten Hotels, Restaurants und Handwerksbetriebe zugemacht. Die Anastas‘ leben in unmittelbarer Nachbarschaft zu Rachels Grab, einer Gedenkstätte, die für gläubige Juden sehr wichtig ist. Wird dort ein religiöses Fest gefeiert, riegeln israelische Militärs das ganze Viertel aus Angst vor Anschlägen ab. Claire Anastas hat ihren Souvenirshop schließen müssen, kein Tourist verirrte sich noch in das gespenstische, von Sperren und Mauerwerk umgebene Viertel. Ihr Mann Johnny musste seine Autowerkstatt aufgeben und verdingt sich seither gelegentlich als Schlosser in einem Nachbardorf.
„Wenn doch nur die Kinder mal raus kämen“, hatte Claire Anastas der Freiwilligen aus Aachen ihr Leid geklagt. „Ihr alle müsstet mal hier raus, habe ich Claire damals gesagt“, erinnert sich Mechtild Kappetein, eine zupackende Frau mit wachen blauen Augen und halblangem weißen Haar, die seit Jahrzehnten im christlich-jüdisch-muslimischen Dialog engagiert ist. Ihren Mann, wie sie Mitglied der katholischen Friedensinitiative Pax Christi, habe sie nicht groß überreden müssen. Gemeinsam sei ihnen klar gewesen: „Wir können die Mauer nicht wegnehmen. Aber wir können dafür sorgen, dass Claire und ihre Familie mal eine Weile frei atmen können.“
Auf eigene Kosten, aber in der Hoffnung auf Unterstützung durch Pax Christi und ihre Gemeinde in Kornelimünster hat Mechtild Kappetein Reisedokumente und Flüge für die Familie Anastas besorgt. Und bewirtet diese nun seit Wochen in ihrem Haus, organisiert Begegnungen in der Kirchengemeinde und fährt mit Daniel (8), Oriana (11), Andrea (13) und Christie (17) nach Holland ans Meer, das sie daheim trotz weniger Kilometer Entfernung nie zuvor gesehen haben.
Mechtild Kappeteins Credo lautet Versöhnung. Seit ihrem ersten Besuch in Israel und den besetzten Gebieten 1999 setzt sich das Vorstandsmitglied im Verein Aachener Friedenspreis für den Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen in Palästina ein. Zwar empfinde sie seit ihrer Schulzeit eine tiefe Verbundenheit mit Israel und dem jüdischen Volk, erklärt die gebürtige Duisburgerin und Mutter dreier Kinder. Auch habe sie Freunde in Tel Aviv, Jerusalem und Haifa. Doch wenn es um die israelische Politik in den besetzten Gebieten geht, ergreife sie Partei für die Palästinenser.
„Ich verstehe die Angst der Israelis, kenne auch Menschen dort, deren Angehörige Opfer von Selbstmordattentaten geworden sind“, sagt Kappetein, die wie viele Nachkriegsdeutsche in den 70er Jahren in einen Loyalitätskonflikt geriet. „Das Sicherheitsbedürfnis der Israelis ist nachvollziehbar, aber ihre Regierung gefährdet durch ihr gewaltsames Vorgehen doch genau die Sicherheit, die sie angeblich herbeisehnt.“ Es gebe Alternativen zur Gewalt in Nahost, meint Mechtild Kappetein. „Muss es geben“, sinniert sie, während sie den zwei jüngsten der Anastas-Kinder hinterher schaut, die sich gerade zum Spielen in einen der Nachbargärten verabschieden.
Ihre Hinwendung zum Thema Palästina sei erst relativ spät erfolgt, sagt sie, – „wenn man bedenkt, dass ich das alles schon als Studentin hätte wissen können“. In Münster, wo sie seit 1967 studierte, habe sie mit einer Kommilitonin aus Nablus zusammen gelebt. „Die war sehr radikal, stieß die traditionell proisraelischen Linken an der Uni mit ihrer aggressiven Sprache vor den Kopf.“ Diese Palästinenserin habe dazu beigetragen, dass sie anfing, die Lage im Nahen Osten differenzierter zu betrachten, so Kappetein.
Im Anschluss an die Uni jedoch ist ihr das Leben dazwischen gekommen. Nach kurzzeitiger Berufstätigkeit als Soziologin in der Psychiatrie in Rheydt, wo sie 1973 ihren späteren Mann Johannes kennen lernte – einen katholischen Priester aus Holland, der am selben Krankenhaus als Seelsorger angestellt war –, zog sie erst einmal drei Kinder groß. „Seither besteht mein Leben aus Ehrenamt“, sagt Mechtild Kappetein lachend. Ehemann Johannes, inzwischen kurz vor der Pensionierung als Psychologe am Aachener Klinikum, schaut sie von der Seite liebevoll an und sagt: „Eine Blitzkarriere im Ehrenamt. Aber im Ernst, sie macht ihre Sache richtig gut!“
Der Nahostkonflikt hat sie dabei umgehend eingeholt. Von 1987 bis 1999 war sie Vorstandsvorsitzende der Hedwig-Dransfeld-Gesellschaft in Bendorf bei Koblenz, die sich neben vielen anderen Themen der Versöhnungsarbeit mit Frankreich und Polen sowie der christlich-jüdisch-muslimischen Verständigung verschrieben hatte. „Dort trafen Ägypter, Jordanier und Syrer auf Israelis, die zwar religiös, aber keine Zionisten waren“, erinnert sich Mechtild Kappetein.
Inzwischen hat sich dieser Verein aufgelöst. Die unermüdliche Christin agiert inzwischen im sechsten Jahr als Vorstand der Schwangerenkonfliktberatung Donum Vitae in Aachen. Palästina bleibt sie wohl auch in Zukunft als Friedensfachkraft erhalten. Eine Erklärung, warum sie sich da so reinstürzt, fällt ihr nicht schwer. „Meine eigene Geschichte als Deutsche hat mich mit Israel-Palästina verbunden“, sagt Mechtild Kappetein. Sie empfinde als deutsche Christin eine besondere Verantwortung, nicht nur für das Existenzrecht Israels einzustehen, sondern ebenso die vollständige Räumung der jüdischen Siedlungen in der Westbank zu fordern. Nicht nur in Gesprächen mit Palästinensern muslimischen wie christlichen Glaubens deren Bewusstsein für die Folgen von Antisemitismus zu schärfen, sondern auch den Menschen im besetzten Gebiet zur Seite zu stehen, die durch den Mauerbau Gefahr laufen, Haus und Einkommen zu verlieren. Menschen wie den Anastas‘ aus Bethlehem, denen Mechtild Kappetein eine Auszeit von der Bedrängnis geschenkt hat. Bald geht‘s zurück, der Stempel im Pass hat ein Verfallsdatum. Claire Anastas packt an diesem Morgen die Wehmut. „Wir hatten so eine entspannte Zeit hier“, sagt sie. Allein der Kinder wegen hofft sie auf weitere Ferien von der Mauer.