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Archiv-Artikel

Ein fremdes Bein im Sarg von Präsident Lech Kaczynski

POLEN Familien der Opfer des Absturzes in Smolensk warten weiter auf Obduktionsberichte aus Moskau

Fünf Opferfamilien fordern die Exhumierung und eine erneute DNA-Untersuchung Die von vielen herbeigesehnte Versöhnung zwischen Polen und Russen rückt wieder in die Ferne

WARSCHAU taz | Wurde Ende April tatsächlich Polens Präsident Lech Kaczynski in der Gruft der Krakauer Königsburg Wawel beerdigt? Oder liegt dort womöglich einer der fünf Generäle, die bei der Flugzeugkatastrophe im westrussischen Smolensk am 10. April auch ums Leben kamen? Angeblich soll Jaroslaw Kaczynski, Oppositionsführer in Polen und Zwillingsbruder des verunglückten Präsidenten, einen Tobsuchtsanfall bekommen haben, als er auf den Obduktionsfotos seines Bruders das Bein eines Generals in Uniformhose entdeckte.

Die meisten Angehörigen der 96 Opfer warten noch immer auf die Obduktionsberichte aus Russland. Die Zweifel wachsen, ob in den Särgen, die versiegelt aus Moskau kamen, die Überreste der Personen liegen, deren Namen auf den Grabsteinen stehen. Verschwörungstheoretiker in Polen verbreiten gar die Mär, dass die Passagiere der Unglücksmaschine noch leben und nur entführt wurden. Andererseits geben viele Polen pauschal „den Russen“ die Schuld am Absturz. Fünf Opferfamilien fordern inzwischen die Exhumierung der Toten und die erneute DNA-Untersuchung der Überreste.

Moskau schweigt zu allen Vorwürfen. Dadurch gerät auch Polens Regierung unter Druck. Denn sollte auch nur bei einer dieser Exhumierungen herauskommen, dass im Sarg die Überreste verschiedener Personen liegen, käme Polens Regierung in massive Erklärungsnot. Möglicherweise müsste sie sogar zurücktreten. Denn bei der von Russen durchgeführten Obduktion aller Opfer sollten polnische Experten zugegen sein. Ob diese in der Lage warten, die DNA-Untersuchungen von tausenden von Körperteilen und Hautfetzen mitzuverfolgen, ist eher unwahrscheinlich. Zwar überwachte Ewa Kopacz, Ärztin und Gesundheitsministerin Polens, die Identifizierung in Moskau, doch bei einigen Opfern schien es fast unmöglich zu sein, überhaupt noch Spuren ihrer früheren physischen Existenz zu finden.

Tatsächlich ist vorstellbar, dass die DNA-Untersuchungen in Moskau nur ungenau durchgeführt wurden. Die offizielle Staatstrauer in Polen sollte nur eine Woche dauern. Viele Polen machten sich aber keine Vorstellung davon, in welchem Zustand die Opfer waren, und drängten auf die rasche Überführung der Toten. Die Staatstrauer sollte erst enden, wenn alle Opfer zurück in Polen waren. Mit der feierlichen Beerdigung des Präsidentenpaares in Krakau wurden aus einer Woche zehn Tage Staatstrauer. Offenbar zu wenig, um alle Opfer einwandfrei zu identifizieren.

Dies würde auch erklären, warum Moskau zögert, die Obduktionsberichte nach Polen zu schicken. Das Schweigen aus Moskau, die sich dahinschleppenden Ermittlungen zur Unfallursache und die desaströse Informationspolitik der polnischen Staatsanwaltschaft haben in Polen eine unangenehme Atmosphäre aus Misstrauen und unterschwelliger Aggression entstehen lassen. Die von vielen herbeigesehnte Versöhnung zwischen Polen und Russen rückt wieder in die Ferne.

Polens Premier Donald Tusk hat die Flucht nach vorn angetreten und erklärt, dass die Zusammenarbeit mit Moskau „in letzter Zeit schlechter ist als zu Beginn“. Je giftiger aber die Attacken religiöser Fanatiker und Anhänger der nationalkonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ von Jaroslaw Kaczynski gegen Russland werden, um so schwerer dürfte es Moskau fallen, auch eigene Fehler zuzugeben. Das Schweigen Moskaus zu allen bisherigen Vorwürfen ist kein gutes Omen. GABRIELE LESSER