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Archiv-Artikel

Sollen Straftäter unter 14 ins Heim gesperrt werden?JA

GESETZESLüCKE Kriminelle Kinder müssen nicht ins Gefängnis. Geschlossene Heime könnten eine Alternative sein

Rainer Wendt, 53, ist Bundesvorsitzender der Deutschen Polizeigewerkschaft Niemand will Kinder einfach „wegsperren“, aber ich bin sehr dafür, diejenigen Kinder, bei denen Erziehungs-, Bildungs- und Integrationsinstanzen versagt haben, notfalls gegen ihren Willen und den ihrer Eltern in staatliche Obhut zu nehmen. Dort kann mittels sinnvoller und kompetenter pädagogischer und psychologischer Betreuung das Versäumte nachgeholt werden. Straffälligkeit von Kindern muss sich nicht zu einer „kriminellen Karriere“ entwickeln. Viele hoch qualifizierte Fachkräfte in unzähligen Projekten widmen sich intensiv diesen jungen Menschen und haben hohe Erfolgsquoten. Aber manche Kinder und Jugendliche werden nicht mehr erreicht. Gesellschaftliche Integration ist hier meist gescheitert, wertegebundene Erziehung und ausreichende Bildung sind bei ihnen zuweilen kaum erkennbar, oftmals bedingt durch mangelnden Erziehungswillen oder völlige Erziehungsunfähigkeit der Eltern. Offene Einrichtungen können erfolgreich sein, wo sie von den Betroffenen angenommen werden. Aber wer wirklich allen Kindern eine Chance geben will, muss auch die schwierigeren Fälle mitnehmen und die Türen eine Weile geschlossen halten. Wer nur darauf wartet, dass sie erwachsen werden, damit sie dann in den Knast geschickt werden können, hat in Wahrheit nichts verstanden.

Veronika Furtwängler, 56, ist Heimerzieherin im Jugendhilfezentrum St. Anton Ja, sofern die Kinder und Jugendlichen mit ihren Straftaten andere oder sich selbst gefährden. Aber auch, wenn Eltern ihren erzieherischen Einfluss weitgehend verloren haben und offene Hilfen nicht mehr umsetzbar sind. In Heimgruppen, die freiheitsentziehende Maßnahmen anwenden, gibt es verhaltenstherapeutisch orientierte Stufenprogramme, mit denen gewaltbereiten Kindern Grenzen aufgezeigt werden sollen. Dabei wird erwünschtes Verhalten belohnt, zum Beispiel mit längeren unbegleiteten Ausgangszeiten. Mit befristeten räumlichen Grenzsetzungen soll vorerst verhindert werden, dass Kinder weglaufen. In intensivpädagogischen Gruppen sollen die Kinder täglich ihr Verhalten reflektieren und in Zusammenarbeit mit ihren Eltern individuelle Hilfe bekommen. Diese Gruppen sind personell stark besetzt. Jedes Kind hat seinen pädagogischen Mentor und wird psychologisch und psychiatrisch begleitet. Das Deutsche Jugendinstitut in München hat in einer Effekt-Studie die geschlossene Heimunterbringung untersucht. Darin haben betroffene Kinder und Jugendliche diese überwiegend positiv beurteilt.

Sascha Morr, 34, ist Verkäufer und hat seinen Leserkommentar auf taz.de gestellt Es ist wichtig, straffällige Kinder und Jugendliche aus ihrem Milieu, ihrer Umgebung herauszuholen. Denn ein Abrutschen in die Kriminalität in so jungen Jahren weist recht eindeutig auf negative Einflussnahme hin – auch durch die Eltern. Deshalb wäre es wohl der beste Weg, diese Kinder ihren Eltern wegzunehmen und sie in eine andere Umgebung mit geeigneterem Umfeld zu versetzen und so ihre jetzigen sozialen Bindungen zu unterbrechen. Dazu gehört auch der Kontakt zu den Eltern. In einer neuen Umgebung müssen die Kinder und Jugendlichen in erster Linie wieder in die Gesellschaft integriert werden. Zwar sollen sie ihre Fehler anerkennen, zugleich muss ihnen auch ganz klar gezeigt werden, dass es einen anderen Weg gibt, in der Gesellschaft voranzukommen. Neben der Betreuung ist auch gute schulische und berufliche Bildung unverzichtbar, sonst rutschen die betroffenen Kinder schnell wieder in ihre alten Angewohnheiten und Verhaltensmuster zurück. Vor allem darf diesen jungen Menschen nicht das Gefühl gegeben werden: „Du hast keine Chance!“ Kinder und Jugendliche, die auf die Fragen nach ihrer Zukunft solche Signale von der Gesellschaft bekommen, werden zwangsläufig verzweifeln oder den Weg wählen, der ihnen am einfachsten erscheint. Und der führt nicht selten in die Kriminalität.

NEIN

Ulla Jelpke, 59, ist innenpolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im BundestagEs ist bestürzend, wie das Sommerloch für eine populistische Debatte zu Lasten des Kindeswohls ausgenutzt wird. Alle wissen, dass weder Erwachsenen- noch Jugendknäste Resozialisierung leisten. Wieso sollte es bei Kinderknästen klappen? Angeblich geht es darum, Kinder zu schützen und aus kriminellen Milieus herauszuholen. Doch die geforderten Mittel ähneln Schutzhaft-Konzepten. Es ist wie so oft: Aufgeregt, aber ahnungslos, wird die Verschärfung von Gesetzen gefordert. Dabei reichen diese aus, Anstiftung zu Straftaten ist strafbar. Doch statt Jugendämter und Sozialarbeit zu stärken, sollen festungsähnliche Heime finanziert werden. Dabei mahnen Pädagogen, dass Erziehung hinter Stacheldraht nicht funktioniert. Noch ein Aspekt: Der Großteil der Kinder-Kriminalität geschieht im Drogenmilieu. Eine sozial und medizinisch sinnvolle Alternative wäre eine liberale Drogenpolitik!

Christian Pfeiffer, 66, ist Direktor des Kriminologischen Instituts Niedersachsen Untersuchungen zu den Auswirkungen geschlossener Heimunterbringung zeigen weltweit denselben Befund: Das Einsperren von Straftätern unter 14 fördert spätere kriminelle Karrieren statt sie zu verhindern. Warum? Weil dieses enge Zusammenleben von extrem hoch belasteten Kindern und Jugendlichen zu negativen Ansteckungseffekten führt. Denn 10- bis 16-Jährige orientieren sich am Verhalten Gleichaltriger. Geschlossene Heimerziehung sollte nur als Krisenintervention bei Kindern eingesetzt werden, die sich und andere gefährden. Sie einige Wochen aus dem Verkehr zu ziehen, schafft oft erst die Voraussetzung, sie und ihre Eltern von sinnvollen Alternativen, wie einer Pflegefamilie, zu überzeugen. Außerdem ist zu beachten: Auslöser der Debatte waren Drogen dealende Kinder. Aber hierzu meldet die Polizei seit zehn Jahren stark rückläufige Zahlen. Wozu die ganze Aufregung?

Sascha Vogt, 30, ist Bundesvorsitzender der Jusos, der Jugendorganisation der SPD Der Ruf nach geschlossenen Heimen für straffällig gewordene Minderjährige ist eine der üblichen kurzfristigen Reaktionen der Politik. Bloß wegsperren und so ein Problem auf vermeintlich einfachem Weg lösen. Die Ursachen dafür werden aber verkannt. Erschreckend ist doch, dass diese jungen Menschen offenbar keine andere Perspektive sehen. Um ihnen diese aufzuzeigen, ist eine fortschrittliche Bildungspolitik genauso erforderlich wie eine gezielten Betreuung der Familien. Das ist natürlicher schwieriger und erst mal teurer. Sperrt man Kinder und Jugendliche aber weg, macht man ihnen nur deutlich, dass die Gesellschaft wirklich nichts von ihnen wissen will. Und das kann langfristig noch teurer werden.

Monika Tschapek-Güntner, 54, ist Vorsitzende des Vereins ehemaliger Heimkinder Kinder werden auffällig oder kriminell, weil ihre Hilfeschreie ungehört verhallt sind. Sie wegzusperren ist eine Bankrotterklärung von Politik und Erziehungswesen. Nicht zuletzt durch unsere eigenen leidvollen Erfahrungen ist inzwischen hinlänglich bekannt, dass eine geschlossene Anstalt Nährboden für jede Art von Missbrauch ist. Das ist auch mit mehr und „besseren“ Kontrollen nicht auszuschließen. Jeder ernst zu nehmende Pädagoge und Psychologe weiß um die Auswirkungen eines geschlossenen Heims – also eines gefängnisähnlichen Wegsperrens – auf Psyche und Werdegang von Kindern. Das grundlegende Problem wird damit lediglich verlagert und für das Kind eher verschärft. Frühzeitige, immer wieder angemahnte präventive Maßnahmen in Kindergärten, Schulen und Familien würden dieses fragwürdige Ausgrenzen und Wegsperren gar nicht erst zum Zug kommen lassen.