Stuttgarts Stadtchef unter Druck

PROTESTE Bei Demonstrationen gegen das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ gehen über 10.000 Menschen auf die Straße. Sie fordern eine Bürgerbefragung und den Rücktritt des OB

Eine Bürgerbefragung schafft keine rechtliche Bindung, aber politische Legitimation

AUS STUTTGART MARTIN KAUL

In Baden-Württemberg wächst der Protest gegen das umstrittene Bauprojekt „Stuttgart 21“. Bei einer Großdemonstration gingen am Samstagabend nach Angaben der Veranstalter rund 16.000 Menschen in Stuttgart auf die Straße. Die Polizei sprach von 12.000 TeilnehmerInnen, die vom Bahnhof durch die Stuttgarter Innenstadt zogen.

Auf Pfannen und Töpfen, mit Trillerpfeifen, Vuvuzelas und Trommeln protestierten sie lautstark gegen den Totalumbau der Stadt und die Errichtung eines unterirdischen Bahnhofes, kurz „Stuttgart 21“ genannt.

Viele AutofahrerInnen schlossen sich mit Hupkonzerten dem Protest an. Immer wieder forderten die Demonstrierenden mit „Schuster weg“-Rufen den Rücktritt des Stuttgarter CDU-Oberbürgermeisters Wolfgang Schuster, der das umstrittene Großbauprojekt gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen will und derzeit in Urlaub ist.

Nach der Demo strömten mehrere tausend Menschen in den Kopfbahnhof, gegen dessen Teilabriss sie sich zur Wehr setzen. Einige hundert von ihnen setzten sich zeitweilig vor die Gleiszugänge. Die Züge standen kurzzeitig still.

Auf einer Kundgebung vor dem vom Abriss bedrohten Nordflügel des Stuttgarter Kopfbahnhofs forderten die Demonstrierenden zuvor, die Pläne zur Umsetzung des heftig umstrittenen Projekts zu stoppen und den Weg für eine Bürgerbefragung freizumachen.

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer sagte, in der jetzigen Situation seien die Fronten in Baden-Württemberg so verhärtet, dass nur noch ein Schiedsrichter schlichten könne. „Dieser Schiedsrichter kann nur die Bevölkerung sein.“ Eine solche Bürgerbefragung hätte zwar keine rechtliche Bindung, könnte aber sowohl für die GegnerInnen von „Stuttgart 21“ als auch für die BefürworterInnen eine politische Legitimation mit sich bringen.

Zuvor hatten sich GegnerInnen und BefürworterInnen gemeinsam in einem „Stuttgarter Appell“ (www.stuttgarterappell.de) für eine Bürgerbefragung ausgesprochen. Das hatte der Stuttgarter Oberbürgermeister erst am Freitag in einem offenen Brief abgelehnt.

Dem OB droht noch aus anderen Gründen Ärger: Er hatte seinem CDU-Amtskollegen Michael Föll, Stuttgarter Bürgermeister für Wirtschaft und Finanzen, im Juli die Erlaubnis gegeben, als Beiratsmitglied eine mit den Abbrucharbeiten beauftragte Firma zu beraten. Föll geriet darauf massiv in öffentliche Kritik. KritikerInnen sehen in dem Engagement ihre Vermutungen über ein Profitkartell aus PolitikerInnen, Bahn und Privatunternehmen bestätigt.

Zwar dürfen PolitikerInnen Privatunternehmen grundsätzlich beraten. Sie dürfen dadurch jedoch nicht in ihrer Amtsausübung eingeschränkt werden. Dies scheint aber bei Föll der Fall zu sein. Zeitnah zum Bekanntwerden seines Engagements für das Unternehmen hatte Föll den durch sein Amt begründeten Vorsitz im Vergabeausschuss der städtischen Wohnungsbautochter SWSG wegen Befangenheit zurückgegeben. Unterdessen hat die Stuttgarter Verwaltung bestätigt, dass der Föll-Posten gegen das Landesbeamtengesetz verstoße.

Mit „Stuttgart 21“ soll der bisherige Stuttgarter Hauptbahnhof teilweise abgerissen und um 90 Grad gedreht unter die Erde verlegt werden. Oberirdisch soll ein neues Stadtviertel entstehen. Seit vor einigen Tagen am Nordflügel des Bahnhofes erste Abrissmaschinen eingetroffen sind, gibt es dort täglich Proteste. Die nächste Demo ist bereits für den heutigen Montag geplant.

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